Einmal habe ich meinen Vater gefragt, wieso es eigentlich reiche und arme Leute gebe und warum manche Leute so arm seien wie die Eltern vom Dworak. Mein Vater, so erinnere ich mich, meinte damals, es sei nicht wahr, dass die meisten Menschen an ihrer Armut selber schuld seien. Es gebe hierfür andere Ursachen. Das hat mich sehr beeindruckt, weil die herrschende und bequeme Auffassung die war: Wer arm ist, sei selber dran schuld, er habe es halt zu nichts gebracht. Die gewaltigste Formel meiner Jugend, die merkwürdigerweise auch von den Hausgehilfinnen benutzt wurde, war die Drohung: Wenn du nichts lernst, wirst halt nur Schuster! – Eine interessante Parenthese, wohin derartige Primitivformeln führen: Es gab in Österreich lange Zeit keine Schuhmacherlehrlinge, Schusterbuben, wie man sie in der alten Zeit genannt hat, nicht einmal für die feinsten Schuhmacher, die nur Maßschuhe erzeugten.
Da ich nicht aufhörte, meinem Vater Fragen über die Ursache der Armut zu stellen, und er sie mir nur partiell beantworten wollte, bemerkte ich in seiner Darstellung eine leichte Voreingenommenheit gegenüber den Verwandten meiner Mutter, mit denen er zwar ein gutes Verhältnis hatte, aber als der Sohn eines Dorfschulmeisters war er gegenüber dem Reichtum der Angehörigen meiner Mutter doch ein bisschen reserviert.
Am 21. November 1916 starb der alte Kaiser Franz Joseph. Der Leichenzug führte durch Mariahilf, und die Kinder in den Bezirken, durch die er von Schönbrunn zur Stadt hineinzog, mussten Spalier stehen. Es war ein eiskalter, grausiger Tag, und wir froren entsetzlich. Als der Trauerkondukt endlich herankam, schien es mir, als fülle sich die ganze Welt mit Schwarz. Es war eine einzige Demonstration der Schwärze, und in den Gesichtern der Menschen waren Schmerz und Sorge zu lesen; was mochte jetzt werden? Als ich nach Hause zurückkam, musste ich meinen Mantel anbehalten, weil es keine Kohlen gab. Es war ein Tag der Kälte und Düsternis in jedem Sinne, und noch in der Erinnerung hat er etwas Unheilvolles.
Vom alten Kaiser wurde in unserer Familie mit großem Respekt gesprochen, und zwar in beiden Familien, in der mährischen Familie meiner Mutter wie in der vom Böhmischen her beeinflussten Familie meines Vaters. Sein Bild hing allerdings nur in der Familie Felix. So lange der Kaiser lebte, hat sich niemand vorstellen können, dass es jemals etwas Anderes geben würde. Natürlich kam dann ein neuer Kaiser. Auch wenn der neue politische Reformen im Sinn haben mochte und sich modern denkende Ratgeber holte, sprachen doch die Umstände gegen ihn. Der Krieg ist eine schlechte Zeit, Reformen zu verwirklichen. Vom ersten Tag an haben die meisten in Karl einen schwachen Monarchen gesehen.
Der Thronfolger war nicht zuletzt wegen seines Jähzorns berüchtigt. Ich selbst habe noch, als Kabinettsvizedirektor beim Bundespräsidenten Körner, einen alten Burg-Gendarmen kennengelernt, den Herrn Ferenc. Das war ein baumlanger Kerl, der nur deshalb Burg-Gendarm geworden war, weil er einmal, wie mir der alte Baron Wilhelm Klastersky erzählte, den Thronfolger bei einem seiner Wutausbrüche beim Rock gepackt und ein bisschen unsanft zur Ruhe gebracht hatte. Danach konnte er natürlich nicht in der Umgebung des Thronfolgers bleiben, und so wurde er zur Burg-Gendarmerie versetzt. Später, in der Zweiten Republik, hat er dem ersten und dem zweiten Bundespräsidenten gedient und ist erst in hohem Alter gestorben. Sehr viel über die Zustände am Hof lernt man aus den Gedichten der Kaiserin Elisabeth. Sie sind ein bisschen im Stil ihres Lieblingsdichters Heinrich Heine verfasst.
Zu allem Unglück hatte der neue Kaiser auch noch eine Frau, die fortwährend zu Spekulationen Anlass gab. Jedermann glaubte, dass Kaiserin Zita aus dem Hause Bourbon-Parma einen großen Einfluss auf Karl hatte. Alle waren sich einig darin, dass sie die sogenannten Sixtusbriefe veranlasst hatte, in denen Karl Frankreich ein Friedensangebot unterbreitete, das die Abtretung von Elsaß-Lothringen an Frankreich vorsah. Da Zita im österreichischen Volk als Italienerin galt, stand sie ohnehin in dem Ruf, eine Verräterin zu sein. Seit Italien 1915 aus dem Dreibund ausgeschieden war, galt es als Land des Verrats schlechthin, und dieses Bild wurde nun auf die Person der Kaiserin übertragen.
Zita soll vor einigen Jahren gesagt haben, sie könnte sich durchaus vorstellen, dass ich unter ihrem damals schon längst verstorbenen Mann Ministerpräsident gewesen wäre. Ich glaube, das war der Versuch einer Captatio als Dank für meine Bemerkung, das Habsburger-Gesetz, das heißt die darin geforderte Verzichtserklärung auf alle Herrschaftsansprüche, habe für sie keine Gültigkeit, da eine weibliche Thronfolge ohnehin nicht in Betracht komme. Regierungschef in einer Habsburger Monarchie – dazu reicht meine Vorstellungskraft nicht aus, und wahrscheinlich wäre ich allenfalls bis an die Pforte der Gnaden gekommen. In den Dreißigerjahren lautete die Parole der österreichischen Sozialdemokraten: Weder Habsburg noch Hitler. Schuschnigg, Bundeskanzler nach der Ermordung von Dollfuß, scheint damals tatsächlich mit dem Gedanken gespielt zu haben, die Monarchie wieder herzustellen. Mehrmals hat er über Mittelsmänner Kontakt zu Otto von Habsburg aufgenommen. Mir ist der Gedanke einer Restauration im kleinen Österreich immer etwas merkwürdig vorgekommen. Sollte es ein Habsburgerreich in den Grenzen von 1918 geben? Etwas anderes hätte ja sofort Krieg bedeutet. Zu was hätte man Otto degradieren sollen? Zum Kaiser in Österreich? Zum Reichsverweser?
Karl hat seinerzeit zweimal den Versuch unternommen, wenigstens in Ungarn wieder auf den Thron zu kommen, und es waren die ungarischen Magnaten, die das verhindert haben. Sie waren zum großen Teil antiösterreichisch, und der Habsburger Erzherzog Albrecht, der sich als Ungar betrachtete, beteiligte sich an der legitimistischen Opposition gegen Karl. Da aber Ungarn ein Königreich war, hatte Horthy die Gelegenheit wahrgenommen, sich unter dem Titel eines Reichsverwesers sozusagen zu inthronisieren, und er dachte gar nicht daran, das aufzugeben. Beide Male ist Karl vollkommen ungeschoren durch Österreich gefahren, einmal sogar unter dem Schutz des sozialdemokratischen Landeshauptmanns von Niederösterreich, Albert Sever.
Gegenüber der Monarchie befinde ich mich in einer leicht ambivalenten Situation. Ich habe sie ja kaum mehr erlebt. Die »Nostalgie«, wie man das heute gelegentlich bezeichnet, ist bei den Österreichem tiefer verwurzelt, als man annimmt, nicht nur bei denen, die das Kaiserreich in seinem Abglanz noch erlebt haben, sondern auch bei den Jungen, denen dies alles eine unbekannte, fremde Welt ist. Nicht zuletzt für die Sozialdemokratie liegt über der untergehenden Monarchie ein Hauch von Melancholie und sogar Anmut. Am 11. November 1918 ging ich mit meinem Vater die Schönbrunner Straße hinauf. Die Gegend gehörte zwar nicht zu den Nobelbezirken, aber der Familie gehörten dort einige Häuser, und so kamen wir zu günstigen Bedingungen zu einer schönen Wohnung. Es gab dort alte Häuser aus dem Biedermeier, und um die Jahrhundertwende hatte man dann elegante Villen und Mietshäuser im Jugendstil errichtet, denn die Straßen nach Schönbrunn sollten allmählich zu Prachtstraßen ausgebaut werden. Die prächtigste von ihnen sollte die Wienzeile werden, weil sie der Kaiser auf dem Weg nach Schönbrunn benutzte, und noch heute stehen dort ein paar unfassbar schöne Häuser aus dieser Zeit.
Ich ging also mit meinem Vater dort entlang, und vor einem Haus, das mir immer schon aufgefallen war, weil dort häufig ein Automobil stand, traf mein Vater eine ihm bekannte Dame. Es war dies das Haus von Karl Seitz, und bei der Bekannten meines Vaters handelte es sich um eine Sozialdemokratin. Ich sah, wie meinem Vater nach den ersten Worten ein Schreck durch die Glieder fuhr, und als ich ihn beim Weitergehen fragte, was denn geschehen sei, erfuhr ich, dass vor wenigen Stunden Victor Adler gestorben war. Das hatte offenbar meinen Vater sehr erschüttert, und heute weiß ich, dass es vielen auch außerhalb der Partei so erging. Viele fragten sich, was nun aus Österreich werden solle. Victor Adler, der Gründer der österreichischen Sozialdemokratie, war nur 66 Jahre alt geworden.
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