Die Sozialdemokratie war die bis dahin größte und bedeutendste pazifistische Bewegung, die es in der modernen Geschichte gegeben hat, allein schon aufgrund ihres weithin hörbaren Internationalismus. Dieser Internationalismus hatte sich als erstes Ziel die Verhinderung eines Krieges vorgenommen. Vielleicht hatte man sich in dieser Frage allzu großen Illusionen hingegeben, denn am Vorabend des Ersten Weltkrieges ist der Pazifismus der Arbeiterklasse wie ein Fluss im Karst verschwunden. Der Pragmatismus forderte aufgrund einer allgemeinen, unverständlichen Hochstimmung ein Bekenntnis zur Nation. Den katastrophalsten Beleg hat das in Deutschland an jenem 4. August 1914 gefunden, an dem die deutsche Sozialdemokratie geschlossen für die Kriegskredite stimmte, was Wilhelm II. zu der Feststellung veranlasste: »Ich kenne keine Parteien mehr; ich kenne nur noch Deutsche.« Und der energische August Bebel hatte schon 1904 gesagt, dass in einem Krieg, »in dem es sich um die Existenz Deutschlands handelt«, die Sozialdemokraten »bis zum letzten Mann bereit seien, die Flinte auf die Schulter zu nehmen«.
Und wie sah es in Österreich aus? Am 5. August 1914 erschien in der Arbeiter-Zeitung ein Leitartikel des Chefredakteurs Friedrich Austerlitz mit der Überschrift: Der Tag der deutschen Nation. Ein Beweis dafür, dass die österreichische Sozialdemokratie, soweit sie deutschsprachig war, von einer großdeutschen Grundgesinnung getragen war. In Deutschland haben sich die Gegensätze, wie gesagt, bald sehr nachdrücklich manifestiert, und am Ende des Krieges gab es zwei Parteien, die Mehrheitssozialisten und die USPD. Die Haltung zum Krieg ist also die wirkliche Ursache der Spaltung gewesen. Das hat nichts mit dem allgemeinen Gegensatz zwischen Radikalen und Gemäßigten zu tun. Es ist im Gegenteil eine Lebensvoraussetzung der europäischen Sozialdemokratie, dass sich in einer so mächtigen Bewegung sehr verschiedenartige Gesinnungen beheimatet fühlen müssen. Eine Auseinandersetzung zwischen Rechten und Linken hätte kaum zur Spaltung geführt, denn ein solcher Zwist kann immer wieder überbrückt werden. In der Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie gibt es hierfür ein beredtes Beispiel.
Auf dem Parteitag im Oktober 1917 prallten die Gegensätze besonders hart aufeinander. Victor Adler mit Karl Renner in seinem Gefolge stand auf der Rechten, auf der Linken führten vor allem Otto Bauer und Robert Danneberg das Wort. Die Auseinandersetzung verlief durchwegs kultiviert, ohne jeden persönlichen Hass. Victor Adler, schon vom Tode gezeichnet, hat sich furchtbar müde und elend gefühlt. Als man für den letzten Tag verabredete, die gegensätzlichen Standpunkte in Resolutionsvorschlägen dem Parteitag vorzulegen, ging Adler zum Wortführer der Linken, zu Otto Bauer, dem er menschlich eng verbunden war, und forderte ihn auf, auch den Text der Resolution der Rechten zu schreiben. Und Otto Bauer hat in vollster Übereinstimmung mit den Forderungen der Rechten auch deren Resolutionsentwurf verfasst, so wie er den der Linken geschrieben hat. Das war keineswegs so, wie es seinerzeit nach Gustav Freytags Journalisten über den Schmock hieß: »Er kann schreiben rechts, er kann schreiben links.« Nein, es war Bauers Genialität, Gedankengänge anderer nachzuempfinden, zu verstehen und zudem auch überzeugend zu formulieren – besser vielleicht, als einer der ihren es hätte können.
Als der Krieg zu Ende war, hatten sich innerhalb der sozialistischen Bewegung sehr viele Richtungen herausgebildet. Die einen wollten die alte Internationale wieder errichten; diejenigen, die von Anfang an gegen den Krieg gewesen waren, bildeten die »Zweieinhalbte« Internationale; und dann gab es noch die Dritte, die Kommunistische Internationale. Die Diskussionen wurden von den besten Köpfen geführt, und sie waren von großem Gehalt. Dennoch sind die Ideen von damals irgendwo im ideologischen Weltall verflogen und spielen in der aktuellen theoretischen Debatte kaum mehr eine Rolle. Wer die Protokolle heute nachliest, hat das Gefühl, als ob uns Lichtjahre von damals trennten. Es war die große Zeit der eloquenten Intellektuellen. Ihre gewaltigen Rededuelle uferten immer mehr aus, bis man sich entschloss, die Zeit fur die einzelnen Redner zu beschränken. Und wieder möchte ich eine Anekdote aus dieser Zeit beisteuern, die mir der französische Sozialist Salomon Grumbach, ein Vertreter der Zweiten Internationale, erzählte. 1922, beim Berliner Kongress der drei Internationalen, nachdem fast alle Delegierten schon stundenlang geredet hatten, bekam Grumbach das Wort. Er war Elsässer und sprach in französischer Sprache, aber als er kaum bei der Hälfte angelangt war, bedeutete ihm der Vorsitzende, dass seine Redezeit abgelaufen sei. Grumbach wandte sich an den Vorsitzenden mit der Bitte, seine Rede ins Deutsche übersetzen zu dürfen. Das konnte ihm nicht verwehrt werden; aber statt zu übersetzen, hat Grumbach seine Rede auf deutsch einfach fortgesetzt. So hatte er als einziger die doppelte Redezeit.
Zu den ideologischen Grundsätzen in meiner Jugendzeit gehörte die These der Einheit von Theorie und Praxis. Heute würde ich sagen, dass die sozialdemokratische Praxis von allem Anfang an der Theorie davongelaufen ist, und zwar in dem Maße, wie die Sozialdemokratie groß geworden ist und eine gewisse Mitverantwortung, wenn auch in der Opposition, übernommen hat. Seitdem sie in Parlamenten vertreten war, gab es verschiedene Formen der Bereitschaft zur Mitverantwortung.
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