Im Laufe der Zeit kümmerte ich mich immer stärker um diese niederösterreichischen Bezirke. Ich habe die mühevolle und bisweilen hoffnungslos scheinende Arbeit in der Provinz sehr gern gehabt, und ich habe dort viele Freunde gefunden. Nach dem Krieg bin ich nach Niederösterreich zurückgekehrt, habe dort 1956 mein erstes Parlamentsmandat bekommen und wurde 1966, acht Monate vor meiner Wahl zum Parteivorsitzenden, Obmann dieses zweitgrößten Bundeslandes. Es ist mehr als ein halbes Jahrhundert her, dass ich in Niederösterreich meine politische Heimat gefunden habe, und noch immer interessiert mich sehr, was in diesen Orten los ist. Es gibt wohl kaum ein Dorf in Niederösterreich, in dem ich nicht mindestens ein- oder zweimal gewesen bin.
Auch als Parteivorsitzender habe ich den 1. Mai immer in Niederösterreich wahrgenommen. Am Vormittag nahm ich an der Wiener Großkundgebung teil, am Nachmittag sprach ich in irgendeiner kleinen Gemeinde meines politischen Heimatbezirkes, und immer freute ich mich aufs Neue, wenn ich unter den Zuschauern Frauen und Männer aus meiner Jugendzeit traf: Man hat oft eingewendet, dass ich kein Niederösterreicher, sondern eine Art Leihgabe aus Wien gewesen sei. Aber wenn ich meine Schulzeugnisse aus der Monarchie zur Hand nehme, dann lese ich dort: Wien in Niederösterreich. Und so war es auch. Es war selbstverständlich, dass Wien die Hauptstadt Niederösterreichs war. Erst neuerdings ist man auf die skurrile Idee gekommen, eine künstliche Hauptstadt zu schaffen. Es ist mir unbegreiflich, wie man auf ein so gewaltiges kulturelles und gesellschaftliches Zentrum wie Wien verzichten kann. Wie hat doch Herzmanovsky-Orlando gesagt: »Auf was die Fachleut’ alles draufkommen, wenn man sie lasst«– auch Quasi-Politiker.
Denke ich zurück an meine Jahre in der sozialistischen Jugendbewegung, muss ich mir selber immer wieder Grenzen setzen. Ich empfinde diese Jahre noch heute als so erlebnisreich, dass ich fast geneigt wäre, sie zu den schönsten meines Lebens zu rechnen. Man muss die Leute gern haben – dieses Wort Victor Adlers war von früh auf mein ethischer Grundsatz in der Politik. Ich habe mich in der Jugendbewegung unendlich wohl gefühlt, und das Zusammensein mit Menschen, die über den Tag hinaus lebten, große Ziele verfolgten und doch zugleich mit beiden Beinen fest auf der Erde standen, sehr genossen. Auch habe ich dort Freunde gefunden, mit denen ich den größten Teil meiner freien Zeit verbrachte.
Meinem Äußeren nach und meinem Auftreten nach war ich, was man unter einem jungen Mann aus gutem Hause verstand. So habe ich gar nicht erst versucht, mich in meiner Kleidung, in meinem Gehaben oder in meiner Sprache anzubiedern, bin also nicht, wie das damals und auch heute allerorten üblich ist, in irgendeiner Einheitskleidung herumgegangen. Vielmehr galt ich immer als sehr gut gekleidet.
Nun hatte es damit allerdings etwas Besonderes auf sich.
Ich hatte eine Tante, eine Schwester meiner Mutter, die mich wie ihren eigenen Sohn geliebt hat und die auch ich sehr gern hatte, weil sie voller Lustigkeit war. Ihr Sohn galt als große Begabung; schon in jungen Jahren war er einer der Direktoren einer Wiener Automobilfabrik geworden und war mithin das, was man in Wien leichtfertig ein Genie nennt.
Es gab damals in Österreich eine ganze Reihe von Automobilfabriken. Steyr, eine über die Grenzen hinaus bekannte Automarke, hatte einige sehr geglückte Modelle auf den Markt gebracht, unter anderem ein Auto für den Taxiverkehr, das noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg gefahren wurde und immer wieder repariert werden konnte, weil es eine ausgezeichnete Werkmannsarbeit war. Zu den schönsten Automobilen der Zeit gehörte der Austro-Daimler. Dann gab es noch den österreichischen Rolls-Royce, er hieß Gräf & Stift.
Ich halte es für einen folgenschweren Fehler, dass wir uns 1955 nicht entschließen konnten, die Automobilproduktion in Steyr wieder aufzunehmen. Steyr war ein Markenname, und wir hatten hervorragendes Personal. Wir hätten leicht einen Mittelklassewagen produzieren können und eines Tages vielleicht einen ähnlichen Erfolg am Weltmarkt erzielt wie Volvo. Als Außenminister habe ich oft und oft mit dem damaligen Generaldirektor der Steyr-Werke gesprochen und ihn aufgefordert, sich doch nicht so stark auf eine Branche einzulassen, in der man mit gewaltigen Weltfirmen nicht konkurrieren könne – ich meine die Landmaschinenerzeugung. Man solle sich auch nicht mit dem Finishing des italienischen Fiats begnügen, wo bestenfalls einige wenige Stunden österreichischer Arbeit drinsteckten. Der Generaldirektor aber hielt die Krisenanfälligkeit der Automobilindustrie für sehr groß. Die Steyr-Werke waren in den dreißiger Jahren tatsächlich in besonderem Maße von der Krise erfasst worden; die Stadt Steyr hatte die meisten Arbeitslosen in Österreich gehabt und war eine Stadt des Jammers und des Elends geworden. Die Erinnerung an diese Zeit veranlasste ihn, lieber Geld zu horten, als eine neue Automobilproduktion in Angriff zu nehmen.
Mein Cousin war früh zuckerkrank geworden und starb. Für meine Tante war dies ein unfassbarer Verlust; dass sie überlebte, grenzte an ein Wunder. Nach dem Tod ihres einzigen Sohnes wendete sie ihre ganze Zuneigung mir zu, und bald nahm ich die Stelle eines Wahlsohnes bei ihr ein. Sie bat mich sogar darum, ihr die Freude zu machen, seine Kleidungsstücke zu tragen. Da mein Cousin ein eleganter Herr war und bei den besten Schneidern, Hemdenmachern und Schustern arbeiten ließ, bin ich in diese Art der Equipierung gewissermaßen hineingewachsen. Ich muss gestehen, dass ich nichts dagegen hatte. Noch heute trage ich – ohne Rücksicht auf das, was gerade modern ist – im Wesentlichen die gleichen Anzüge, die gleichen Schuhe, die gleichen Hemden und die gleichen Krawatten.
Das war aber auch alles, was ich mit meinem Cousin gemeinsam hatte, denn er war ein geschworener Feind der Sozialdemokraten. Ich erinnere mich noch, wie er anlässlich eines großen Automobilarbeiterstreiks im Familienkreis hasserfüllt von den »Roten« sprach, und wie gern ich ihm widersprochen hätte, nur fehlte mir damals noch die nötige Sachkenntnis. Meine Unfähigkeit, das Gewusste auch zu formulieren und mit Argumenten aufzuwarten, hat mich zum ersten Mal gelehrt, wie wichtig für eine Diskussion die gründliche Vorbereitung ist. Gefühl und Instinkt reichen nicht aus. Ein Sozialdemokrat, hat Willy Brandt einmal gesagt, muss bereit sein, täglich aufs neue zu überzeugen. So habe ich es immer gehalten. Ich habe mich nie wissentlich in eine Diskussion eingelassen, wenn ich das Gefühl hatte, ich wüsste über die Zusammenhänge zu wenig Bescheid.
Auf der anderen Seite war ich sehr streng mit mir selbst. Ich bin während meines ganzen Lebens kaum je in einem Nachtlokal gewesen. Nicht, dass ich Nachtlokale und Leute, die dort verkehren, verachtete, aber es hat nicht zu meinem Lebensstil gepasst. An ein einziges Mal erinnere ich mich: Mein erster Jugendobmann, Ferdinand Nothelfer, wollte, dass ich am Abend mit ihm agitieren gehe. »Wo gehst denn hin?« hab’ ich ihn gefragt. »Ins ›Moulin Rouge‹.« Wir haben uns fein herausgeputzt – für ihn war der Smoking die Berufskleidung – und sind ins »Moulin Rouge« gezogen. Als gleich ein Kübel mit einer riesigen Champagnerflasche an den Tisch gebracht wurde, ist mir ganz schwindlig geworden. Ich habe mich über den Tisch gebeugt und leise gefragt: »Ja, sag amal, wer zahlt denn das?« Er hat auf mich geschaut mit einem müden Lächeln, wie es Kellner manchmal an sich haben, und geantwortet: »Der b’soffene ungarische Graf da drüben.« Nobel wie er war, hat er wohl darauf verzichtet, die Rechnung zu prüfen.
Die sozialdemokratische oder sozialistische Arbeiterbewegung hat seit Anfang dieses Jahrhunderts in den demokratischen Staaten Europas gewaltige gesellschaftliche Veränderungen bewirkt. Die sozialistischen Parteien sind somit Parteien im historischen Sinne geworden. Zwar haben sie die Grundprinzipien der kapitalistischen Gesellschaftsordnung nicht verändert, aber durch ihre gesellschaftspolitischen Ideen haben sie ihr ein etwas menschlicheres Gepräge verliehen. In einigen Ländern droht durch den sogenannten »Neokonservativismus« allerdings eine Rückkehr zu den alten Zuständen. Die Sozialdemokratie müßte, um dem zu begegnen, wieder eine große Aufklärungs- und Kulturbewegung werden, freilich in einem ganz neuen Sinne. Früher hat sie neue Institutionen geschaffen oder vorhandene in einer Weise verändert, dass sie der nach Kultur hungernden Elite der Arbeiterbewegung entsprachen. Dazu gehören die Volkshochschulen in Skandinavien, die der Arbeiterbewegung trotz ihrer Unparteilichkeit gewaltige Dienste erwiesen haben, und alle Arten von Volksbildungseinrichtungen. In Österreich war eine davon die sogenannte Arbeitermittelschule, wo Arbeiter und Angestellte am Abend Unterricht von Mittelschullehrern erhielten; auf diese Weise wollte man ihr intellektuelles Bewusstsein stärken und sie auf die Matura vorbereiten.
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