Das Mädchen runzelte nachdenklich die Stirn. »Werde ich dich wiedersehen?«
»Bestimmt wirst du das. Es wird aber noch eine Weile dauern.«
»Wie lange denn?«
»Das kann ich dir nicht sagen.«
»Ich habe bald Geburtstag. Kommst du mich besuchen?«
»Das geht leider nicht.«
Wieder schwieg das Mädchen. Nach einer Weile löste es einen Arm von den Beinen und betrachtete seine Handfläche.
Ahen erkannte eine kleine Narbe am Ansatz des Zeigefingers. »Hast du dich dort geschnitten?«
»Einmal bin ich gestolpert, habe mein Trinkglas verloren und bin mit der Hand auf eine Scherbe gefallen. Das hat sehr wehgetan.«
»Das glaube ich dir.«
»Hast du auch schon mal eine Verletzung gehabt?«
»Zum Glück nicht.«
»Du bist nie gestolpert oder hingefallen?«
»Nein, bisher nie.«
»Du Glückspilz!«
Ahen konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Gleichzeitig erinnerte er sich an die vielen Unfälle der Menschen, die er aus den Mentalarchiven kannte.
»Warum hast du mich hierhergeholt?«, fragte das kleine Mädchen nach einer Weile.
»Du bist ein ganz besonderer Mensch. Eines Tages wirst du etwas Wichtiges tun müssen.«
»Was denn?« Das Mädchen streckte seine Beine von sich und berührte mit den Zehenspitzen das Wasser. »Es ist gar nicht kalt.«
»Ja, es passt sich uns an.«
»Wie geht das?«
»Es geschieht einfach.«
»Du bist komisch.«
Ahen lachte unwillkürlich und sah das Mädchen eine Weile an. Die Haut war wesentlich dunkler als seine. Das schwarze Haar schien im Glanz des Lichts leicht bläulich zu schimmern.
»Wann bringst du mich wieder nach Hause?«, fragte das Mädchen und zog die Beine wieder an sich. »Ich langweile mich.«
»Bald.«
»Du hast mir immer noch nicht gesagt, warum ich hier bin.«
»Du würdest es nicht verstehen. Aber vor allem, weil ich dich unbedingt kennenlernen wollte.«
»Ich will nach Hause.«
Ahen erhob sich und streckte dem Mädchen die Hand entgegen. »Komm, wir gehen ein Stück.«
Geschickt balancierte Ahen über einen der unzähligen Stege, welche die vielen Plattformen miteinander verbanden. Das Mädchen folgte ihm. »Das ist lustig. Ist das Wasser tief?«
»Ja, sehr tief.«
»Ich kann schon schwimmen.«
»Das ist gut. Dann wäre es nicht schlimm, wenn du hineinfallen würdest.«
»Bist du schon mal hineingefallen?«
»Ja, ein paar Mal. Aber meistens springe ich freiwillig hinein.«
»Das kann ich auch.«
»Das glaube ich dir.«
»Darf ich es hier auch tun?«
»Wenn du möchtest, spring ruhig hinein.«
Auf einer der Plattformen blieb das Mädchen stehen, stellte sich an den Rand und sah nachdenklich auf den Wasserspiegel. »Gibt es da drin Fische oder gefährliche Tiere?«
»Nein. Ich bin das einzige organische Wesen, das in dieser Sphäre lebt.«
»Du bist ganz alleine?«
»Ja.«
»Das ist ja furchtbar!« Das Mädchen sperrte Mund und Augen weit auf.
»Nein. Ich kenne nichts anderes. Es hat nie jemand anderen gegeben.«
»Du warst schon immer ganz alleine?«
»Ja.«
»Ist dir nicht langweilig?«
»Nein, überhaupt nicht. Ich kann mich hier mit sehr vielen Dingen beschäftigen.«
»Womit denn?« Ein weiterer Funken Neugier entsprang den Augen des Mädchens.
»Ich kann schwimmen, über die Stege von Plattform zu Plattform rennen, die Höhlen erforschen und aus den Mentalarchiven mein Wissen erweitern.«
»Was ist ein Mentalchiv?«
Ahen musste grinsen. »Es heißt Mentalarchiv. Das ist ein Speicher, in dem alles, was in der Welt geschieht, gespeichert wird.«
»Alles? Auch das, was bei mir zu Hause passiert?«
»Auch das.«
»Du beobachtest uns?«
»Nicht ich, die Sphären tun es.«
»Aber du kannst es dir anschauen.«
»Ja, ich kann mir anschauen, was ich will und wann ich will.«
»Dann weißt du alles über mich?«
»Ja, über dich weiß ich tatsächlich alles. Aber nicht nur über dich, auch über alle anderen Menschen.«
»So viel kannst du doch gar nicht in deinem Kopf behalten.«
»Das muss ich auch nicht. Ich schaue mir nur das an, was mich interessiert, und behalte nur das, was für mich wichtig ist und ich behalten will.«
»Bin ich wichtig für dich?«
»Ja, sogar sehr wichtig.«
Das Mädchen atmete mit einem selbstzufriedenen Gesichtsausdruck tief ein und reckte die Brust. »Du kannst aber mit niemandem darüber reden. Hast du mich deshalb hierhergeholt?
»Ich habe dich hierhergeholt, weil du mir wichtig bist und ich dich kennenlernen wollte.«
»Hast du sonst gar keine Freunde?«
»In Gedanken schon.«
»Ich könnte deine Freundin sein.«
»Ja, das bist du. Und ich bin dein Freund.«
Das Mädchen setzte sich an den Rand der Plattform und streckte die Beine ins Wasser. Dann rutschte es nach vorn und ließ sich hineingleiten.
»Das Wasser ist viel wärmer als bei uns.«
»Ich weiß nicht, wie das Wasser bei euch ist. Hier ist es immer so.«
»Ich möchte, dass es bei uns auch so ist.«
Mit ungestümen Bewegungen versuchte das Mädchen, im Wasser vorwärtszukommen und umrundete auf diese Weise die Plattform.
»Du kannst schon sehr gut schwimmen.«
Das Mädchen sagte nichts und ruderte noch hastiger mit den Armen. Nach einer zweiten Umrundung hielt es sich am Rand fest und atmete heftig.
Ahen setzte sich neben sie und sah sie lächelnd an. Ihre Haut glitzerte im hellen Licht. Für einen kurzen Moment nahm sie einen bläulichen Ton an. Da wusste er, dass seine Mission erfüllt war.
1.
Kaum hatten sie die Schleuse verlassen, erschütterte die erste Explosion die innerste Zone des Laborkomplexes. Die dicken Panzerglaswände zur nächsten äußeren Zone waren jedoch stabil genug, um einer solchen Detonation standzuhalten. Die Schleuse selbst hatte sich automatisch verriegelt. Der Druck in der innersten Zone war auf ein Minimum gesenkt worden. Bei einer Selbstzerstörung ging es lediglich darum, den kontaminierten Bereich vollständig zu eliminieren, ohne dass andere Zonen davon betroffen wurden.
In Zachary Ross’ Gedanken tauchte immer wieder der Moment seines Missgeschicks auf. Wie hatte er sich nur so ungeschickt anstellen können? Er war sich so sicher gewesen, den richtigen Augenblick für seine alles entscheidende Aktion gewählt zu haben. Allerdings hatte sein Vorhaben nicht darin bestanden, ein reguläres Experiment mit den außerirdischen Nanopartikeln durchzuführen. Vielmehr hatte er beabsichtigt, diese für einen anderen, ganz bestimmten Zweck einzusetzen.
Eine Vernichtung der innersten Zone war ebenfalls nicht vorgesehen gewesen. Wie sollte er dies gegenüber seinen Vorgesetzten rechtfertigen? Zumal er unter Umständen auch nicht mehr verbergen konnte, dass er eine nicht autorisierte Person diesen Bereich hatte betreten lassen. Dies konnte sein primäres Vorhaben gefährden.
Die Frau stand unmittelbar neben ihm und starrte erschrocken durch die Panzerglasscheibe auf das Inferno. Kaskaden von Flammen züngelten an den Wänden empor, bedeckten die Labortische und die übrigen Einrichtungsgegenstände. Reagenzgläser und andere Behälter zerbarsten und sprühten Funken in alle Richtungen. Der laute Knall einer weiteren Explosion ließ das Panzerglas erneut erzittern.
»Wir müssen hier sofort raus!«, schrie Zachary der Frau zu und stürmte zum Gang, der zur nächsten Schleuse führte. Durch den Ausschnitt des Sichtglases seines Schutzanzuges konnte er nicht erkennen, ob sie ihm folgte. Aber das spielte im Moment keine Rolle. Es galt in erster Linie, sich selbst in Sicherheit zu bringen und anschließend sämtliche Beweise für seine Aktion zu vernichten. Letzteres dürfte das größere Problem werden, aber damit wollte er sich erst befassen, wenn er hier heil rausgefunden hatte.
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