Als er durch die Halle ging, kam er an der Küche vorbei und dachte sich, dass er ebenso gut einmal hineingehen und nach den Zeuginnen sehen konnte.
Als er eintrat, empfingen ihn fröhliche Stimmen. Weihnachtspunsch wurde ausgeschenkt und Wünsche zum Fest ausgetauscht. Ein besonders Vorwitziger stimmte sogar ein Weihnachtslied an. Es war warm und gemütlich.
Rosenkranz brauchte nicht lange, ehe er sie entdeckte. Ihr blondes Haar leuchtete zwischen Schultern und Köpfen hervor. Anita Klingbeil unterhielt sich gerade mit Tropfstein, der zweite Mann nach Kirschkern bei der Spurensicherung. Mit zwei Schritten war er bei Ihnen, mischte sich ein wenig ins Gespräch und klinkte Tropfstein dann ganz raus, in dem er seine eigene Wichtigkeit ein wenig hervorhob.
Das Ganze war nicht schwer, denn Tropfstein war, wie der Name schon sagte, ein Tropf. Eingeschnappt zog er ab.
Endlich hatte Rosenkranz sie für sich allein und verstrickte sich mit ihr in ein Gespräch.
Normalerweise war er ein pflichtbewusster Mitarbeiter. Trotzdem waren für kurze Zeit der Gärtner, der Mord und der Kommissar vergessen.
Als Kommissar Höflich durch den Hintereingang in die Halle trat, fiel er dem Gesuchten, nämlich Kirschkern, direkt und im wahrsten Sinne des Wortes in die Arme. Und das alles andere als elegant.
Das Team der Spurensicherung, das bis auf einige wenige Details seine Arbeit beendet hatte, begann zusammenzupacken. Wenigstens das nahm Höflich wahr, als er, noch vom Schnee und der langsam untergehenden Wintersonne geblendet, in den etwas dunkleren Raum trat.
Doch was er nicht bemerkte, war das Detail, oder besser Knüppel, den jungen Praktikanten, der auf dem Boden nahe der Tür herumkroch, den Kopf verborgen unter einem kostbaren Rokoko Stuhl, das Hinterteil in die Höhe gereckt, ein Ärgernis für jeden nichtsahnenden Eintretenden.
Ehe Kommissar Höflich wusste wie ihm geschah, stießen seine Knie an einen Gegenstand, während sich bereits seine Füße vom Boden lösten und er sich, platt vor Verwunderung, fallen sah, mit dem Kopf zuallererst. Vergessen waren alle Abrolltechniken. Gab es sie überhaupt? Vergessen waren die eigenen Hände, die ihn hätten schützen müssen, steckten sie doch noch immer gemütlich in den Hosentaschen, in der einen umfassten sie einen Knetball, in der anderen die notwendigen Zigaretten.
So sah er, gelähmt vor Schreck, den edlen Parkettboden auf sich zukommen und erahnte bereits den unvermeidlich schrecklichen Aufprall, als er sich plötzlich an beiden Schultern gepackt fühlte. Nur wenige Zentimeter trennten seine Nase noch vom Boden, als er im unfreiwilligen freien Fall von Kirschkern und einem seiner Mitarbeiter gestoppt werden konnte.
Mühsam und entschieden zu unsportlich rappelte er sich auf. Die Hilfe von Kirschkern und seinem Faktotum hatte er dabei von sich gewiesen. Es war auch so schon peinlich genug. Blinzelnd sah er sich um. So gut wie alle Personen, so schien es ihm, die sich zu dieser Stunde im Haus befanden, standen um ihn herum. Na gut, fast alle. Vielleicht hätte er sich verneigen sollen.
„Mist!“ Höflich konnte nicht verhindern, dass ihm vor Verlegenheit ganz heiß wurde. Wenigstens konnte er Rosenkranz nirgends entdecken.
„Nichts passiert!“ Verärgert wandte er sich an die Umstehenden: „Stehen Sie hier nicht so herum! Gehen Sie wieder an Ihre Arbeit, wenn ich bitten darf! Es gibt hier nichts zu gucken!“
Schmunzelnd zogen sie sich zurück.
Dann fiel sein wütender Blick auf den schuldigen Knüppel, der ihn, noch immer am Boden kauernd, mit großen blauen Augen ansah.
Das reizte ihn nun wirklich. Gerade wollte er über den jungen Praktikanten seinen Ärger ausschütten, als er von Kirschkern unterbrochen und weggezogen wurde.
So jäh in seinem Wutausbruch behindert, konnte er dem jungen Mann nur noch einige böse Blicke zu werfen und „Unerhört“ murmeln.
Sogleich wandte er sich dann auch an Kirschkern: „Sie sollten sich mit besseren Leuten umgeben! Zu ungeschickt …! Ja wirklich! Das sollten Sie!“
„Werde ich tun. Aber hören Sie: Der Kleine krabbelte auf meinen Befehl da herum. Konnte ja keiner wissen, dass Sie gerade dann und durch diese Hintertür kommen. Was wollten Sie eigentlich hinterm Haus. Na egal.“ Kirschkern atmete ein paarmal durch. Dann rückte er mit der Neuigkeit heraus: „Übrigens haben wir unter diesem Stuhl da den Schal der Sekretärin gefunden. Und raten Sie mal, wozu der verwendet wurde!?“
Stirnrunzelnd sah Höflich seinen Kollegen an. Schwerfällig setzten sich seine grauen Zellen in Bewegung. „Ahhhh …“, machte er dann.
„Ja, genau!“ Kirschkern war sehr professionell. „Sie hat sie damit eingewickelt.“
„Eingewickelt?“
„Ja! Die Gans!“ Der Mann von der Spurensicherung trat von einem Bein auf das andere. Doch Höflich musste erst einmal alle Informationen in seinem Kopf nummerieren. Trotzdem versuchte er ein wissendes Gesicht aufzusetzen.
„So! Aha.“
„Ja! Vor etwa einer Stunde hatte Knüppel den Schal gefunden und die Spuren entdeckt. Ging natürlich sofort ins Labor. Die Gans war bereits schon vorher hingeflattert. Haha! Jetzt haben wir ihr den Schal geschickt!“ Er grinste.
„Wie? Die Gans braucht einen Schal?“ Höflich hatte den Faden verloren. Kirschkern jedoch verlor langsam die Geduld.
„Nicht die Gans! Die Mörderin!“
Na endlich. Jetzt hatte sich der Kreis wieder geschlossen. Damit konnte der Kommissar etwas anfangen. Er legte zwei Finger an die Schläfe, schüttelte den Kopf und fragte: „Wieso um alles in der Welt glauben Sie, dass es sich um eine Mörderin handelt?“
„Sagte ich das nicht? An dem sichergestellten Schal befinden sich Frostspuren, genau wie am Kopf der Leiche. Die Untersuchungen im Labor ergaben, dass die Frostspuren von eben der gefrosteten Weihnachtsgans herrühren, die neben dem Haus gefunden wurde. Im Übrigen handelt es sich bei der Weihnachtsgans, genau wie wir vermutet hatten, um die Tatwaffe, an der obendrein Wollfasern von dem betreffenden Schal nachgewiesen wurden. Dieser Schal gehört der Sekretärin des Toten.“ Kirschkern holte tief Luft: „Nach meinem Dafürhalten ist das ein unumstößliches Indiz dafür, dass sie die Mörderin sein könnte.“
Kommissar Höflich stand stumm da und sah so lange auf einen ganz bestimmten Punkt an der Wand vor ihm, dass Kirschkern nicht umhin konnte, ebenfalls diesen imaginären Punkt an der Wand gegenüber zu suchen.
Was er jedoch sah, war eine Fotografie von einer Familie. Das Bild strahlte Harmonie aus. Zusehen waren die Eltern mit zwei halbwüchsigen Kindern und einem kleinen Hund. Ein Foto aus dem Familienalbum der Familie Maus aus guten Tagen.
Im Hintergrund, etwas weiter entfernt, entdeckte er hinter hohen alten Bäumen einzelne Häuser, wie an einen Hügel geklebt. Vielleicht ein kleiner Bauernhof, dachte er so nebenbei.
Der Kommissar indes schritt mit auf dem Rücken verschränkten Händen auf und ab, von Wand zu Wand. Hin und wieder blickte er auf die Fotografie.
„Möglich“, meinte er. „Vielleicht aber auch nicht. Der Mörder hätte sich den Schal nur zu nehmen brauchen, sagen wir, wenn die Besitzerin ihn beim letzten Besuch einfach bloß vergessen hatte.“
„Ja“, sagte Kirschkern, „aber können Sie das Gegenteil beweisen? Hat die betreffende Dame ein Alibi?“
„Nein. Das kann man nicht gerade sagen. Vielleicht haben Sie Recht.“ Abrupt wandte er sich um. „Wo ist eigentlich mein Assistent?“
Als Kommissar Höflich mit Kirschkern die Küche betreten wollte, stießen sie auf einigen Widerstand. Wie sich herausstellte, bestand dieser Widerstand aus dem knochigen Rücken von Kirschkerns Praktikanten, Knüppel. Der war nämlich der letzte in der Schlange der Mitarbeiter des Landeskriminalamtes, die, wie Höflich einen Moment später entrüstet feststellte, nach einem heißen Punsch anstanden.
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