Drei Tage nach dem Lichtwunder erschien Bischof Willibald in Heidenheim, nur begleitet von zwei Diakonen und dem Heiden von der Lichtung. Im Angesicht jenes heiligmäßigen Mannes fühlte sich Michal nicht wie dessen Nichte, sondern wie eine Unwürdige, die seinem Stamm allenfalls an den äußersten Enden des Astwerks entsprungen war. Während er den Marktplatz überquerte, wo die Menschen zusammengelaufen waren, schlug er nach allen Seiten das Kreuzeszeichen. Von seinem Bischofsstab strömte, im Gegensatz zu Wulfhardts Stab, keine Bedrohung aus, vielmehr erschien er wie der Stab eines guten Hirten, der seine Herde schützt. Der Stab war gleichsam das einzige Insigne, welches die erhabene Stellung verriet, denn er trug ansonsten nur eine braune Mönchskutte aus einfachem Wollstoff, nichts bedeckte die grauen Haare. Doch sein gütiger Blick flößte jedem Menschen auf dem Marktplatz mehr Bewunderung ein, als es eine Krone vermocht hätte. Welch würdiger Bischof der römischen Kirche! Welche Verderbtheit hatte sie dagegen in Wulfhardts Antlitz erblickt, dem Bischof der fränkischen Kirche.
Seine Schwester Walburga erwartete Willibald an der Klosterpforte. Sie verneigte sich vor ihm, er umarmte sie. Alsdann zog er sich in das Mönchskloster zurück, um zu speisen und ein wenig zu ruhen. Gerade war er im Klosterhof verschwunden, da sagte Walburga: „Heute ist ein besonderer Tag, Schwester Michal. Mein Herz jubelt, weil ich meinen Bruder, den Bischof, endlich wiedersehe, noch dazu gesegnet mit guter Gesundheit in seinem zweiundsechzigsten Lebensjahr. Doch auch dein Herz soll jubeln: Ich werde unseren Bischof bitten, dir heute den heiligen Schleier zu verleihen.“
Michal zuckte zusammen, so unerwartet traf sie die Nachricht. Sie schlug die zusammengepressten Hände vor den Mund, sodass die Fingerspitzen die Nase berührten. „Oh danke! Ich danke dir, meine gute Tante!“
„Nein“, wehrte die Äbtissin ab. „Danke mir nicht. Du hast den Schleier wahrlich verdient.“ Sie neigte ihren Mund etwas näher an Michals Ohr. „Danke, dass du das Licht in das Kloster gebracht hast. Deine beherzte Tat rettete mich vor der Anklage Wulfhardts.“
„Gott entzündete dieses Licht.“ Michals Mund verzog sich zu einem Lächeln.
„Wahrlich, Gott hat in dir eine tapfere Streiterin. Und nun begebe dich in die Schreibstube, bis der Bischof uns ruft.“
Michal tat, wie ihr geheißen, doch war ihre Hand zu zittrig, um Buchstaben auf Pergament zu bannen, und als Willibald sie zum Gottesdienst rief, fühlte sie sich schwach wie noch nie in ihren achtzehn Jahren und hätte sich am liebsten auf dem Dachboden verkrochen. Doch Aebbe fasste sie am Arm. „Du bist ja ganz blass, Schwester Michal. Na komm, gehen wir ein wenig nach draußen, da geht’s dir gleich besser.“
„Ich weiß nicht …“, protestierte Michal, doch da hatte ihre Freundin sie schon vor die Tür gezogen.
Sie folgten Walburga. Sie führte Willibald zum Wynnebaldsbrunnen, der umrahmt wurde von zwei uralten Eichen und einem Tempel aus römischer Zeit; in ihm hatte Wynnebald ein Kreuz aufgerichtet, über dem bronzenen Basrelief, das die Fratzen heidnischer Götter zeigte: Welch hervorragendes Sinnbild für den Sieg des Christentums!
Willibald predigte den Heiden, mit der Taufe, die sie nun empfingen, sage Gott „Ja“ zu ihnen. Dieses „Ja“ sei endgültig: Er nehme sie in seinen gütigen Schoß und werde sie ewiglich beschützen. Dann taufte er sie.
Michal gelang es währenddessen, sich zu sammeln. Mönche, Nonnen und die frisch Getauften folgten dem Bischof nach der Taufe in die Kirche. Kerzen wurden entzündet, durch die hohen Fenster fiel wenig Licht, dafür umso schärferer Herbstwind, von dem die Kerzenflammen zitterten während der Heiligen Messe.
Da trat Willibald vom Altar herab und schritt auf die Holzschranke zu, hinter der die Nonnen standen. Vor Michal blieb er stehen.
Sie starrte den ehrwürdigen Bischof an, bis sie merkte, wie unziemlich dies war. Hastig senkte sie das Haupt.
Willibald sprach: „Hugeburc, genannt Michal, aus dem Sachsenstamme, du bist wie ich von den Gestaden der Heimat aufgebrochen, bist über das stürmische Meer gereist, um in diesem Land das Licht des Evangeliums zu verbreiten. Allein mit diesem Wagnis hast du deine Eignung für ein Leben im Lichte Christi bewiesen. Und hätte der Herr sein Licht zu Walburga geschickt, wenn er mit einer ihrer Mägde haderte?“
Michals Knie gaben nach, kniend presste sie die Handflächen aneinander.
Walburga überreichte Willibald einen schwarzen Schleier mit weißem Rand.
Willibald fuhr fort: „Dieser heilige Schleier soll von nun an dein Haupt bedecken, denn der heilige Paulus schreibt im ersten Brief an die Korinther: Eine Frau aber, die betet oder prophetisch redet mit unbedecktem Haupt, die schändet ihr Haupt. Gelobst du, Michal, die Evangelischen Räte der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams zu befolgen?“
Eine Pause trat ein, bis Michal merkte, dass sie antworten musste. Sie haspelte: „Ich gelobe es, bei Gott, dem Schöpfer des Himmels und der Erde, und bei Jesus Christus, seinem Sohn.“
„Gelobst du, wahrhaft Gott zu suchen, dich um die tägliche Umkehr zu bemühen und ein Leben zu führen nach der Regel des heiligen Benedikts?“
„Ich gelobe es!“
„Gelobst du, Christus nichts vorzuziehen?“
„Ich gelobe es!“
Und er breitete den Schleier über ihr Kopftuch und segnete sie. „So bitten wir dich, Herr, unser Gott: Schau gütig auf unsere Schwester. Das Versprechen der Jungfräulichkeit legt sie in deine Hand und weiht dir ihr ganzes Leben; denn du selbst hast dazu ihr Herz bewegt. Ohne dich kann kein Sterblicher dem Gesetz der Natur entgehen, die Freiheit zum Bösen bewältigen, die Macht der Gewohnheit brechen, die Leidenschaft der Sinne überwinden.“
Aebbe drückte ihre Hand, tränenüberströmt blickte Michal auf das Holzkreuz, das auf dem steinernen Altartisch thronte.
„Ich sage zum Herrn: Du bist mein Herr, mein ganzes Glück bist du allein. Ich neige mein Herz, zu tun deine Gebote immer und ewiglich.“
So vollkommen war dieser Augenblick, so festgewebt das Band zwischen Jesus Christus und ihr, dass − dessen war sie gewiss − niemals irgendetwas es wieder lösen könnte.
Mit jedem Baum, den Gerold auf dem Weg zum Grafenhof passierte, schlug sein Herz schneller. Er senkte den Blick, legte die Hände aneinander und murmelte Worte der Kirchensprache. Er verstand sie nicht, jedoch hoffte er, sie würden ihm bei dieser Prüfung helfen. „Pater noster, qui es in caelis: sanctificetur nomen tuum.“ Gerold sah auf. Hundert Schritte vor ihm erblickte er das Licht am Ende des Waldes. „Adva…“ Er holte tief Luft. „Adveniat regnum tuum. Fiat voluntas tua …“ Unter seinem linken Fuß knackte es. Er zuckte zusammen. Es war nur ein Zweig, beruhigte er sich. Nur ein Zweig. Er legte die zittrigen Hände aneinander. Er wollte die Kirchenformel weitersprechen, doch ihm fielen keine Worte mehr ein.
Angst.
Gerold schämte sich. Bevor Wulfhardt den Grafenhof heimgesucht hatte, hatte er nicht gewusst, was Angst war. Dann hatte Wulfhardt ihn in das Verlies gesperrt, ein Krug abgestandenes Wasser war seine einzige Gesellschaft gewesen. Die Schreie der Menschen, die im Großen Saal verbrannten, hatten ihm in den Ohren geklungen. Er hatte Adelheids hohes Kreischen gehört. Auch sie, seine Angebetete, hatte er im Stich gelassen.
Er hatte dort unten gesessen, hatte aber nichts tun können. Das war am schlimmsten gewesen. Aber dann − vielleicht nach zwei Tagen – bemerkte er, dass an einer Stelle durch die hölzerne Falltür ein kräftiger Lichtstrahl drang. Er kniff die Augen zusammen: Das Holz war dort ein wenig abgesplittert. Er kratzte Erde von den Wänden, baute damit einen Hügel und stellte den Krug darauf. Auf dem Krug hin- und herbalancierend, bekam er immer wieder das Holz der Falltür zu fassen, ab und an riss er einen Holzsplitter aus der Falltür heraus. Selbst als es dunkel wurde, machte er weiter. Als es wieder hell wurde, passte sein Arm durch das Loch. Mit der einen Hand zog er sich an der Falltür nach oben, mit der anderen griff er nach draußen. Ganz lang musste er seinen Arm machen, bis er endlich den Riegel zu fassen bekam und ihn zurückschieben konnte. Er hob die Falltür an und traute seinen Augen nicht: Vor ihm stand ein weißes Reh. Rote Augen, gekrönt von weißen Wimpern, sahen ihn ruhig an. Gerold war, als hätte das Reh die ganze Zeit dort oben gewartet. Mit einer Stange seines Geweihs schob das Reh ihm das Seil hin. Dann trabte es davon.
Читать дальше