Plötzlich stand Julia in der Tür. „Aufstehen, Rafael und Til!“, rief sie.
Rafael schauderte, als Til in diesem Moment die Augen aufschlug. Er sah genauso aus wie sein Bruder, gähnte einmal kräftig, streckte seine Glieder und richtete sich im Bett auf. Rafael war sich jetzt ganz sicher, dass es sein Bruder Til war …
„Narr Silberspiegel!“, sagte Til, der immer noch am Bahnhof von Verlorenherz stand. „Erkläre mir doch einmal, warum noch nie jemand aus Verlustig zurückgekommen ist!“
Narr Silberspiegel blickte auf die Menschen, die immer noch am Bahnhof standen und um ihre Angehörigen weinten, die soeben im VERLUSTIG-EXPRESSaus der Stadt gebracht worden waren.
„Es hat mit der Geschichte der Königin von Verlorenherz zu tun“, sagte er, blickte in seinen kleinen, runden Silberspiegel und begann, zu erzählen:
Es war einmal eine liebe Königin, die hatte einen noch lieberen Gatten, den Herrn König von Weichlieb. Sie liebte ihn von ganzem Herzen. Unter seiner Herrschaft herrschte überall im Reich Frieden und Glück und das Königreich hieß damals Weichlieb, nicht Verlorenherz. Der König von Weichlieb war ein lieber König und er wollte sein Glück mit allen Menschen in seinem Reich teilen. Es gab auch keinen Hass, keinen Neid und keine Eifersucht in diesem wunderbaren Reich, denn alle Menschen liebten und achteten einander.
Der König von Weichlieb unternahm gern weite Reisen auf magischen Teppichen, aber diese Fliegerei des Königs von Weichlieb gefiel der Königin leider gar nicht. Immer hatte sie Angst, dass der König von Weichlieb von seinen weiten Reisen nicht mehr zurückkehrte. Eines Tages musste sich die Königin wie so oft vom König von Weichlieb verabschieden, denn er plante wieder einmal eine weite Reise auf einem seiner magischen Teppiche. Es war ein warmer Herbstabend, an dem der König und die Königin im Schlossgarten unter zahlreichen bunten Bäumen Abschied nahmen. Die Bäume verloren schon ihre ersten Blätter und als die Königin das sah, überkam sie ein eigenartiges Gefühl der Trauer. Der König von Weichlieb schenkte ihr noch einen Abschiedskuss und flog dann munter auf seinem Teppich davon, der war so bunt wie das Laub der Herbstbäume. Es war das letzte Mal gewesen, dass die Königin ihn gesehen hatte. Der König wurde lange gesucht, aber nirgendwo gefunden. Die Königin war nun ganz allein und sehr traurig. Der ganze Hofstaat machte Anstalten, die Königin wieder zu verheiraten, doch keiner der Anwärter gefiel der Königin so wie ihr verschwundener König von Weichlieb.
Tagsüber blieb die Königin nun immer in ihrem Schloss. Manchmal schlich sie sich aber nachts nach draußen und ging dann durch die Straßen und Gassen der Stadt. Oft sah sie reiche Menschen, die sich an ihren Reichtümern erfreuten, an hohen Häusern oder teuren Autos, und sie sah Menschen, die jung gestorben, aber in Weichlieb glücklich wieder vereint waren und sich küssten und umarmten. Da wurde ihr bewusst: Ihrem Volk ging es besser als ihr selbst.
Das machte sie endlich so wütend, dass sie befahl, dass in ihrem Land fortan kein Mensch mehr etwas behalten sollte, weder einen geliebten Menschen noch ein Tier noch ein Haus noch auch nur den kleinsten Gegenstand. Wenn ein Mensch beispielsweise ein schönes Auto besaß, von dem er glaubte, dass es ihm nun gehörte, so verwandelte sich dieses Auto am nächsten Tag in ein neues und am übernächsten wiederum in ein neues und immer so weiter. Kein Gegenstand blieb in Verlorenherz länger als einen Tag bei einem Menschen, selbst Pullover, Hosen, Mäntel, ja sogar Zuckerdosen und Pfannen und so weiter gingen nach kürzester Zeit verloren. Dann mussten die Menschen stets zur Königin von Verlorenherz gehen und sie um neue Dinge bitten und die Königin hatte dann allerhand zu tun, den Menschen diese Dinge herbeizuzaubern, die sie brauchten, aber das lenkte sie wenigstens von ihrer eigenen Trauer ab.
Aber Menschen konnte die Königin natürlich nicht ersetzen – und es gab ein Gesetz im ganzen Land, das die Königin selbst eingeführt hatte: Die Menschen verloren ihre Liebsten, indem alle dreißig Tage der Zug Verlustig-Express in die Stadt einfuhr. Dieser Zug holte jene Menschen ab, welche die Königin von Verlorenherz dazu bestimmt hatte. Dadurch zerreißt die böse Königin bis heute ganze Familien! Aber niemand kann die Macht der Königin so einfach brechen, denn die Königin ist eine große Zauberin und als solche mächtig und gefürchtet. Und so müssen die Menschen in Verlorenherz wohl oder übel mit den Entscheidungen der bösen Königin leben und ebenso traurig sein wie sie selbst.
Die Geschichte von Narr Silberspiegel erinnerte Til an seinen Großvater, der seine Mama verlassen hatte – das hatte ihm seine Mama einmal erzählt: Sie war damals erst drei Jahre alt gewesen. Ihr Papa, Tils Großpapa, war immer gerne mit Kleinflugzeugen geflogen. An einem warmen Herbstabend stand die kleine Julia mit ihrer Mutter auf dem Flugplatz, um sich von ihrem Papa zu verabschieden. Die Bäume verloren ihre ersten Blätter und Tils Mutter erinnerte sich später noch ganz genau daran, wie sie sich zum letzten Mal von ihrem Papa verabschiedete. Er sagte zu ihr: „Wenn du größer bist, dann fliegst du mit und wir fliegen zusammen bis in die Wolken!“ Die kleine Julia wollte lieber gleich mit, aber ihre Mutter sagte: „Dafür bist du noch zu klein!“ Julia weinte und quengelte deshalb noch den ganzen Tag. Es war das letzte Mal gewesen, dass Julia ihren Papa gesehen hatte. Er kam nie wieder zurück, das Leichtflugzeug wurde lange gesucht, aber niemand konnte es finden. Man nahm an, es wäre irgendwo abgestürzt.
„Aber warum müssen denn alle Menschen in Verlorenherz mit den Entscheidungen der Königin leben?“, wollte Til wissen und fühlte sich wieder sehr traurig. „Da muss man doch irgendetwas dagegen tun können!“
Narr Silberspiegel überlegte scharf. Die Menschen um sie herum auf dem Bahnsteig wurden nun endlich weniger, aber es blieben immer noch einige zurück, die sehnsuchtsvoll und traurig um sich blickten und nicht glauben konnten, dass sie ihre Liebsten nun für immer verloren hatten. Til wurde auf einen Jungen aufmerksam, der seinen Vater verloren hatte. Nun saß er auf dem Bahnsteig und blickte stumm in die Richtung, in die der Zug verschwunden war. Und unweigerlich musste sich Til nun auch an seinen eigenen Vater erinnern:
Rafael und Til waren vier und fünf Jahre alt gewesen. Ihr Papa hatte sie zur Geburtstagsfeier eines Freundes von Rafael gefahren. Abends wollte er die beiden Jungen dann abholen, aber auf dem Weg zu ihnen geriet er in ein Gewitter. Durch den heftigen Regen, der sich wie ein weißer Vorhang auf seine Windschutzscheibe legte, war er mit dem Auto von der Straße abgekommen und in den Bach gestürzt. Til war bei der Beerdigung dabei gewesen, aber er erinnerte sich nur noch daran, wie traurig er gewesen war und dass er ständig sein Weinen unterdrückt hatte, weil seine Mama auch nicht geweint, sondern nur traurig ausgesehen hatte. Und er wusste noch, wie er dann eine Weile bei seiner Mama im Bett geschlafen hatte, die nachts oft geweint und ihn dabei umarmt hatte. Vielleicht hatte die Königin seinen Papa auch nach Verlustig geschickt? Dann musste Til ihn unbedingt zurückholen und vielleicht konnte er auch die anderen Menschen aus Verlorenherz wieder glücklich machen!
„Was ist denn das?“, fragte Til erstaunt, als er im Spiegel des Narren plötzlich tanzende bunte Buchstaben erkannte, die sich allmählich zu einem Satz zusammensetzten: Geh nach Verlustig! Nun blickte auch Til in die Richtung, in die der Zug nach Verlustig verschwunden war. Außerhalb des Bahnhofsgebäudes lag dort alles in einem weißen, dichten Nebel. Einen Augenblick lang überlegte Til, wie er überhaupt wieder zurück zu Mama und Rafael kommen konnte, aber dann dachte er wieder an seinen Papa und an die traurigen Menschen aus Verlorenherz und sagte entschlossen: „Gehen wir nach Verlustig und tun, was der Spiegel uns sagt, Narr Silberspiegel!“
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