Das Enneagramm hilft dabei, öfter mal „aus dem Typ zu kommen“. Es lädt ein, dem authentischen Selbst mehr Raum zu geben als der erworbenen Identität. Viele Menschen fürchten zu Beginn der Arbeit mit dem Enneagramm die enthaltenen Anregungen zur Persönlichkeitsentwicklung. Sie glauben, sie müssten dann auf etwas von sich verzichten, was sie bisher doch so weit gebracht hat; sie wollen sich nicht verändern. Doch es geht gar nicht um Veränderung, es geht um Entwicklung. Und Persönlichkeitsentwicklung heißt nicht, erworbene, nützliche Kompetenzen aufzugeben, sondern die Bandbreite des Verhaltens zu erweitern.
Eine Drei, z. B. Michael aus Typenkapitel 3, wird seine erworbenen Fähigkeiten – wie schnelle Auffassungsgabe, bedarfsorientiertes Handeln oder Überzeugungsvermögen – nicht verlieren, ganz im Gegenteil. Wenn er sich selbst „ent-wickelt“, also den engen „Strickmantel“ aus Mechanismen und Automatismen öffnet, wird er viel beweglicher. Er wird lockerer, für andere zugänglicher, erreichbarer. Das macht es anderen Menschen leichter, auf ihn zuzugehen und ihm das entgegenzubringen, wonach er sich eigentlich sehnt: dass er gemocht wird, einfach so, ohne sich dafür zu verausgaben. Und seine Kompetenzen, die ihm erhalten bleiben, kann er dann viel entspannter nutzen, vielleicht auch einmal für etwas ganz anderes als das bisher Gewohnte einsetzen.
Enneagrammtyp und Arbeitsverhalten
Wie wirkt sich das Wissen über den Enneagrammtypen auf die Zusammenarbeit aus?
Im Typenkapitel zur Drei lesen Sie das Praxisbeispiel zu Michael, einem Coachee, der mit dem Anliegen, seinem Leben neuen Sinn zu geben, zu mir kam. Michael war ein erfolgreicher Verkäufer im Außendienst, geschätzt von den Kunden, bewundert von den Kollegen, protegiert von seinen Vorgesetzten. Doch die Wirtschaftskrise hatte das Geschäft zum Stillstand gebracht. Michael machte keine Abschlüsse mehr, der gewohnte Erfolg und die übliche Bestätigung blieben aus und Michael stürzte in eine Identitätskrise.
Michael mag oberflächlich betrachtet wie ein ganz normaler Verkäufer wirken, dessen Los es nun auch mal ist, trotz Anstrengungen und guter Angebote Absagen und nicht jeden Auftrag zu bekommen. Doch das hier beim Typ 3 zu erkennende Erfolgsstreben ist nur die „Spitze des Eisbergs“. Tauchen wir, wie im Eisberg-Modell dargestellt (Abb. 1), unter die Wasseroberfläche in die Tiefenstruktur des Menschen Michael ein, können wir mithilfe des Enneagramms verstehen, unter welchem enormen, selbst auferlegten Druck unser Typ 3-Michael steht, er ist kurz vor dem Burnout.
Der Grund für diese Lebenskrise ist, dass er als Typ 3, imageorientierter Macher, seine gesamte Aufmerksamkeit auf die Frage „Wie werde ich hier erfolgreich?“ gerichtet hat. Dreien wirken oft wie Workaholics: Sie sind sehr ehrgeizig und immer damit beschäftigt, ein Ziel zu erreichen. Sie scheinen unermüdlich und als Sieger-Typ alles zu schaffen. Sie wissen genau, was zu tun ist und worauf es ankommt, um in einer bestimmten Situation zu punkten. Sie orientieren sich an dem, was ihrer Meinung nach von ihnen erwartet wird. Wegen ihrer herausragenden Ergebnisse ernten sie viel Lob und Anerkennung, das nährt ihre Eitelkeit.
Bleiben jedoch der Erfolg und folglich das, was sie gewohnt sind – die Bestätigung –, aus, fällt der Typ 3 in ein tiefes Loch. Für Menschen eines anderen Persönlichkeitstyps ist es zu Beginn der Arbeit mit dem Enneagramm schwer vorstellbar, was mitunter schon ein kleiner Misserfolg für eine Drei bedeutet, nämlich das Gefühl, als ob ihr der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Da eine tief verankerte (Ego-) Überzeugung der Drei ist, dass nur der Gewinner gemocht und gewollt wird, hat sie eine geradezu existenzielle Furcht vor Niederlagen und davor, mit einem Projekt zu scheitern.
Abb. 1: Das Eisberg-Modell
Daher setzt das Ego von Typ 3 alles daran, dass es entweder erst gar nicht soweit kommt oder, sollte es doch einmal dazu gekommen sein, dass er (und andere) es nicht in dem Maße spürt. Dabei neigt er zur (Selbst-)Täuschung. Er sagt sich dann zum Beispiel, dass es ja nicht an ihm lag, das Ziel verfehlt zu haben, oder dass ihm ein anderes Ziel letztlich viel wichtiger war, oder er beschäftigt sich mit Nebenaktivitäten, die eigentlich gar nicht zielführend sind. Dies alles hält das Bild des Gewinners aufrecht und lenkt sehr gut von negativen Gefühlen ab, zum Beispiel von seiner Urangst, als „Versager“ nicht geliebt zu werden.
Wenn Sie Ihren Kollegen beispielsweise als Typ 3 erkennen, verstehen Sie besser, was ihn dazu bewegt, sich so zu verhalten. Sie können ihn mit seiner Art leichter annehmen, da Sie einen Einblick in das „Drama“ seiner Geschichte erhalten. In jedem Typenkapitel lesen Sie unter der Überschrift „Rucksack“, welche Last der jeweilige Typ mit sich trägt, die ihn zu dem gemacht hat, wie er sich heute zeigt.
So haben zum Beispiel Dreier-Kinder meist reichlich Lob und Anerkennung erhalten, allerdings immer bezogen auf Leistung oder Taten, nicht einfach dafür, dass sie da waren. Dadurch haben Dreien früh verinnerlicht, dass es nötig ist, etwas Vorzeigbares zu erschaffen, um wahrgenommen zu werden.
Was Dreien im Umkehrschluss meist nicht gelernt haben, ist, dass es auch in Ordnung ist, einfach nur zu sein und nichts zu tun. Ihnen fehlt die Erfahrung, dass sie auch dann noch „in Ordnung sind“, wenn sie nichts dafür getan und nichts vorzuweisen haben oder mit einem Projekt auf die Nase gefallen sind. Die Persönlichkeit des Typs 3 hat Erfolg als Antreiber verinnerlicht. Daran hält sie auf Biegen und Brechen fest, im Zweifel auch, indem sie sich selbst etwas vormacht – aus Angst, abgelehnt und nicht geliebt zu werden. Eigentlich wünscht sich eine Drei nichts sehnlicher, als einfach nur sein zu dürfen und geliebt zu werden, ohne etwas dafür tun zu müssen.
Die Typ 3-bedingte Persönlichkeitsentwicklung und ihre Versöhnung – der Weg der Drei zurück zum Ursprung – gehen wie bei allen Typen durch die Angst (Abb. 2). Zuallererst fühlt es sich bedrohlich an, an sich zu arbeiten. Es macht (dem Ego) Angst, die erste Schicht zur Persönlichkeit zu lüften, es fürchtet, durchschaut zu werden, und reagiert mit Abwehr. Typische Aussagen von Seminarteilnehmern sind an dieser Stelle „Ich will so bleiben, wie ich bin! Es gibt keinen Grund, an mir zu arbeiten!“. Die zweite Schicht, die es zu durchdringen gilt auf dem Weg zum Wesenskern, ist die Scham. Muster aufzudecken und für andere anders sichtbar zu werden, erfüllt mit Peinlichkeit. Wer dran bleibt, Angst überwindet und Scham zulässt, kommt alsbald an seine Wut. Es steigen Zorn und Wut auf, die auch jeweils typspezifisch sind. Zum Beispiel darüber, dass sich Muster nicht so schnell ändern lassen oder dass es überhaupt zu Mustern gekommen ist, oder Ärger über die eigenen Grenzen. Auf dem Weg zur persönlichen ENT-Wicklung und zur Essenz hat jeder Typ eine typspezifische Herausforderung zu meistern und immer gilt es, das zu lockern, was im Typmuster gefangen hält, das Ego zu überwinden und die selbst begrenzenden Anteile der Persönlichkeit aufzuweichen. Bei der Drei heißt das, sich von der anstrengenden, übertriebenen Erfolgsorientierung und der daraus folgenden (Selbst-)Täuschung zu verabschieden. Es bedeutet, zu lernen, loszulassen, zu entspannen und darauf zu vertrauen, dass die Dinge sich auch ohne ihr Zutun entwickeln. Zu spüren, dass sie auch dann noch gemocht wird, wenn sie einmal nicht so gut dasteht. Sollten Vorhaben einmal misslungen sein, ist es eine gute Alternative, dazu zu stehen, statt sich selbst und anderen etwas vorzumachen.
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