Wer sich für eine längere Zeit, mindestens zwei bis drei Wochen, aus seinem Beziehungsgeflecht lösen kann, weil andere in der Familie die anstehenden Aufgaben übernehmen, hat die Chance, eine aktive Gestaltung der freien Zeit wie z.B. Urlaub zu versuchen. Eine überschaubare Zeit mit sich allein zu verbringen, Zeit zu haben, neue Orte, neue Länder, interessante Natur kennenzulernen und zu bewundern, das kann jeden Pilger bereichern, beglücken, aus seiner Lethargie des Alltags herausreißen. Zeit für neue Gedanken, Zeit für neue Menschen und ihre Gedanken, Zeit für sich selbst ohne Rücksichtnahme auf andere, das kann für jeden Menschen eine neue Chance bedeuten. Probleme verblassen, werden weit zurückgelassen, und der Pilger taucht in eine neue Welt ein, die sich ausschließlich mit den lösbaren Problemen des Tages beschäftigt. Wie ist das Wetter? Wie weit ist meine Tagesetappe? Reicht mein Trinkwasser aus? All das sind Probleme, die lösbar sind, die aber auf dem Wege an jedem Tage wieder auftreten werden.
Gut bekommt dem Pilger eine Auszeit, um seinen Körper in frischer Luft in der Natur zu kräftigen, wenn man jeden Tag auf neuen Wegen läuft. Mit jedem Tag fällt es leichter, den schweren Rucksack zu tragen, fällt es leichter, den nächsten Berg zu erklimmen. Guter Schlaf und Konzentration auf die Beschaffenheit der oft sehr steinigen Wege, all das lenkt ab von den normalen Sorgen des Alltags. Die Natur verwöhnt die Seele, die Freiheit des Wanderns macht das Herz leicht und die Anstrengung kräftigt den Körper.
Das alles gibt neue Impulse für das weitere Leben. Dazu kommen Gespräche mit anderen Pilgern, die über neue Dinge und über ihr Leben berichten, und so verändert sich die Blickweise auf das eigene Leben, wenn man ein wenig Abstand davon gewinnt. Und schließlich finden die meisten Pilger, auch wenn sie durchaus nicht alle aus religiösen Gründen unterwegs sind, eine Form der Spiritualität, die sie auf ihrem Weg begleitet, die sie verändert und für ihr weiteres Leben stärkt.
Viele erringen auf dem Camino einen Sieg über sich selbst, weil sie mit einem starken Willen die Aufgabe bewältigen, die sie sich gesteckt haben. Und das macht sie dann dankbar und glücklich und gibt ihnen Stärke, weil sie wissen, dass sie in der Lage dazu sind, viel mehr zu schaffen, als sie sich ursprünglich zugetraut haben.
Und so bedeutet das Laufen auf den Jakobswegen eine ungeheure Bereicherung für den ganzen Menschen, verändert ihn, gibt neue Impulse und zeigt im wahrsten Sinne des Wortes „neue Wege“, auch neue Wege für das künftige Leben.
Geschichtliches zu den Caminos: Jakobswege in Europa
Als Jakobsweg, im Spanischen „Camino de Santiago“, bezeichnet man das Wegenetz, das, durch ganz Europa verlaufend, zum Grab des Apostels Jakobus in Santiago de Compostela in Galizien in Spanien führt. Seit gut tausend Jahren sind Pilger unterwegs, um Santiago zu erreichen. Sie wandern, fahren mit dem Rad oder reiten auf Pferden, was früher sicherlich häufiger der Fall war als heute. In den Jahren 1970 bis 1980 begann man besonders in Spanien die Jakobswege wieder zu beleben und zu kennzeichnen. Dies führte dazu, dass bereits 1993 der spanische Hauptweg, der Camino Frances, in das Unesco-Welterbe aufgenommen wurde. Und ab 1987 gab der Europarat den Wegen der Jakobspilger in ganz Europa den Namen „Europäische Kulturroute“.
Die Namensgebung des Jakobsweges rührt von Jakobus her, einem der Jünger von Jesus Christus, der an dem Ort begraben sein soll, an dem die Kathedrale von Santiago de Compostela errichtet wurde. Bereits im Mittelalter pilgerten die Menschen nicht nur nach Rom und Jerusalem, sondern auch nach Santiago de Compostela, um einen Ablass von ihren Sünden zu erreichen. Jedoch führten Jahre der Kriege und auch Pestepidemien dazu, dass diese Wege nach Santiago de Compostela viele Jahre nur noch wenig genutzt wurden, sogar fast in Vergessenheit gerieten. So ist in den letzten dreißig bis vierzig Jahren ein immer mehr anwachsendes Interesse am Jakobsweg zu verzeichnen, was sich in den ständig wachsenden Pilgerzahlen besonders in den heiligen Jahren zeigt. Heilige Jahre werden dann ausgerufen, wenn der 25. Juli, der Tag des Apostels, auf einen Sonntag fällt. Dann wird der vollkommene Sündenerlass gewährt und demnach steigen in den heiligen Jahren, zuletzt in 2010, die Pilgerzahlen kräftig an.
Aus den Informationen des Pilgerbüros in Santiago de Compostela aus dem Jahre 2011 geht hervor, dass zu 53 Prozent Spanier auf dem Jakobsweg laufen, gefolgt von Deutschen, Italienern, Portugiesen und Franzosen. 121 weitere Länder der Welt werden genannt, aus denen die Pilger nach Santiago gekommen sind. Die größte Gruppe der Pilger stellt die Gruppe der Dreißig- bis Sechzigjährigen (57,7%). Die kleinste Gruppe bildet die Gruppe derjenigen, die älter als sechzig sind (13,9%). Im Jahre 2010 erreichten zu 44% Frauen und zu 56 % Männer ihr Ziel in Santiago.
Aus Deutschland kamen im Jahre 2011 gut 16 000 Pilger in Santiago de Compostela an. Dem gegenüber steht die Zahl von 648 deutschen Pilgern aus dem Jahre 1989.
Die Pilgerzahlen sind in der Höhe beeindruckend und haben sich allein von 2005 bis 2012 mehr als verdoppelt, so dass sich im Jahre 2012 190.591 registrierte Pilger im Pilgerbüro angemeldet haben. Dem gegenüber stehen folgende Zahlen: Auf dem Camino Francés waren 132.652 (72 %) unterwegs, auf dem Caminho Portugues 22.062 (12%), auf dem Camino del Norte 11.729 (6%), auf der Via de la Plata 8.061 (4 %), auf dem Camino Primitivo 5.544 (3%), auf dem Camino Inglés 2.720 (1%). 1
Fragt man in Spanien jemanden, wo der Jakobsweg beginnt, so erhält man zur Antwort: „Der Weg beginnt in Ihrem Haus.“ Damit ist gemeint, dass der Weg für jeden dort beginnt, wo er wohnt. Früher liefen die Menschen bei sich zu Hause in allen Ländern Europas los. Die Pilger waren dann manchmal sogar Jahre unterwegs, sofern sie die Reise überlebten und auch Santiago erreichten. Heute jedoch hat es sich verändert: Die Pilger reisen mit dem Flugzeug oder mit der Bahn an, um dann einen Teil der Jakobswege zu belaufen oder mit dem Fahrrad zu befahren.
Für die Menschen im Mittelalter war die Pilgerbewegung ein Segen, denn es wurden damals entlang der Pilgerwege Kirchen, Gasthäuser, Straßen und Krankenhäuser erbaut. Demnach wuchsen die Orte und Städte und erhielten einen wirtschaftlichen Aufschwung. Auch heute profitieren ganze Wirtschaftszweige von den Pilgerscharen, die in unterschiedlich großer Anzahl zunehmend die Pilgerwege beschreiten.
Aus der damaligen Zeit kommen auch die Dinge, die heute noch gebräuchlich sind: Die Jakobsmuschel, an der Kleidung oder am Rucksack getragen, ist ein Symbol für die Pilgerschaft und sollte sowohl früher als auch heute die Pilger beschützen. Zudem ist der Pilger durch die Muschel als Pilger gekennzeichnet, so dass die Bevölkerung den Pilger mit Ehrfurcht betrachtet und der Pilger sich somit im fremden Land sicher fühlen kann.
Die Kalebasse, ein Kürbisgefäß, war in früherer Zeit ein Trinkgefäß, in dem das Trinkwasser transportiert wurde. Heute ist dieses sicherlich von Trinkflaschen ersetzt worden. Der Wanderstock diente zum Abstützen, aber auch zur Verteidigung. Hier werden heute jedoch vielfach Walkingstöcke als Hilfsmittel beim Laufen verwendet.
Der Pilgerpass findet heute auch noch Verwendung. Dieser diente früher dazu, dass Pilger sich als solche ausweisen konnten und damit keine Steuern für Brücken und Straßen usw. bezahlen mussten. Heute sollte man sich den Pilgerausweis bereits zu Hause bei den Jakobusgesellschaften im Internet bestellen und diesen dann täglich dort abstempeln lassen, wo man übernachtet. Ein Übernachten in den Pilgerherbergen ist ohne Pilgerpass nicht möglich. Weiterhin benötigt der Pilger den Nachweis, dass er fortlaufend unterwegs war, indem er die Einträge im Pilgerpass vorweisen kann, um damit die Compostela, die Pilgerurkunde, in Santiago zu bekommen.
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