Ein Rascheln weckte Moritz. Er lag auf einer Wiese und blinzelte in einen azurblauen Himmel. Wo war er hier?
Hinter ihm ragte eine Bergkette steil auf. Die Berge waren so hoch, dass sie irgendwann weiß wurden und Wolken ihre Spitzen verdeckten.
Ganz in seiner Nähe befand sich ein Stein, ein Findling.
Unterhalb der Wiese gab es einen Wald, dessen Bäume eine üppig gewachsene Krone besaßen, durch die das Sonnenlicht kaum durchdringen konnte.
Moritz runzelte die Stirn. Alles, an was er sich erinnern konnte, war dieser Sturz aus dem Fenster … Plötzlich wurde das Rascheln neben ihm immer lauter. Irgendetwas um ihn herum ging vor sich, von dem er nicht wusste, was es war. Ehe er sich den Geräuschen zuwenden konnte, spürte er etwas an seinem Ohrläppchen kitzeln und im nächsten Moment machte es auch schon Zwick. »Autsch!«, zuckte Moritz seinen Kopf zur Seite, aber das Zwicken wollte nicht nachlassen. Er fühlte eine Pflanze, zog an ihr, doch so einfach mochte sie nicht klein beigeben. »Lass los, du blödes Mistding«, knurrte er. »Ich habe keine Lust auf Löcher im Ohr, bloß weil du mich mit deinem Essen verwechselst. Such dir gefälligst was anderes!« Er presste die Lippen aufeinander und zerrte die Pflanze schließlich ab, hielt das etwa zehn Zentimeter große Gewächs hoch und sah es an. Vom Stängel bis zum Kopf war es ganz grün und sah ein klein wenig aus wie eine Hagebutte. Oben an der Spitze konnte er eine Öffnung erkennen, die reflexartig auf- und zuschnappte.
Kleine, spitze Zähne lauerten dort ringsherum auf fleischhaltige Opfer. Aber nicht mit mir, dachte Moritz und stand auf.
Nachdem er sich die Pflanze noch etwas angeschaut hatte, holte er aus und schmiss sie in die grüne … Jetzt erst erkannte er, in was er da eigentlich stand – eine Wiese mit jeder Menge kleiner, gefräßiger Pflanzenmonster.
»In was bin ich da bloß reingeraten?«, zupfte sich Moritz nervös am Ohr.
»Wenn du willst, helfe ich dir auf die Sprünge«, hörte er eine Stimme antworten.
»Hä? Wer ist da?« Überrascht blickte sich Moritz um, konnte jedoch nirgends einen erkennen. »Was soll denn das Ganze?«
»Mein Name ist Kriemhild von den Kupferhöhlen oder für dich, Frau Müller.«
»Frau Müller? Wo sind Sie?«
»Immer noch in deiner Welt. Aber nicht mehr lange. Mit deiner Hilfe werde ich zurückkehren können.«
»Was soll das heißen?«
»Was das heißen soll? Dass du etwas für mich tun sollst!«
»Und warum machen Sie das nicht selbst?«
»Oh, gehst du mir auf die Nerven. Das ist ja schlimmer wie Spinnenkraut.«
»Ist mir egal. Ich werde einer ollen Hexe wie Ihnen nicht helfen. Sie können mich jetzt wieder zurückholen und sich einen anderen suchen, der was auch immer für Sie erledigen soll.«
»Geht nicht.«
»Wie, geht nicht? Ich will wieder nach Hause!« Moritz fühlte sich schrecklich, so ganz allein in dieser fremden Welt. Das durfte einfach nicht wahr sein! Er war kurz davor, einen Wutanfall zu bekommen.
»Was glauben Sie eigentlich, wie lange es dauert, bis meine Mutter mich vermisst?«
»Das wird sie gar nicht merken. Es ist die Zeitspanne der Sonnenfinsternis, die es mir möglich macht, dich hierher zu schicken. Bevor sie vorbei ist, bist du wieder zurück. Aber nur, wenn du mir was Schönes mitbringst.«
»Was wollen Sie denn haben? Vielleicht noch ein Ei? Allerdings kann ich hier nichts entdecken, wo man so etwas kaufen kann. Dann könnte ich Ihnen ein paar von diesen wunderschönen Blumen pflücken.« Moritz bückte sich und riss wahllos eine der Pflanzen heraus, ehe sie nach ihm schnappen konnte.
»Brrr«, hörte er es in der Luft rasseln. »Nimm gefälligst deine Finger aus meiner Wiese, oder … «
»Oder was? Ist außerdem gerade passiert. Und dass das Ihre Wiese ist, wundert mich gar nicht. Was ist das überhaupt für eine schräge Gegend hier?«
»Das ist Grünholm, mein Zuhause.«
Moritz sah sich um, ließ die Pflanze wieder fallen und blieb wie gebannt bei dem Wald hängen. »Und der Wald da unten?«
»Das ist der Kürbiswald.«
»Der was?«
Er bekam keine weitere Auskunft, Kriemhild hüllte sich für einen Moment lang in Schweigen. Als sie fortfuhr, sagte sie: »Ich denke, dass du dir inzwischen über deine Lage im Klaren bist, den Auftrag annimmst und erledigst. Immerhin bleibt dir nicht viel Zeit dafür. Also solltest du dich ranhalten.«
»Was soll das eigentlich für ein Auftrag sein?«
»Du sollst mir Anika bringen, die Tochter des Burgherrn zu Bogenwall. Sie wohnt in der Burg Drachenzahn.«
»Wieso das denn?«
»Das brauch dich nicht zu interessieren. Finde sie einfach und erfülle deinen Teil des Auftrags.«
»… Was, wenn sie nicht will? Wenn sie keine Lust hat, mit mir mitzukommen?«
»Dann bist du auf ewig in dieser Welt gefangen. Wirst sie eben dazu bringen müssen, mit dir zu gehen. Streng deinen Kopf an – lass dir was einfallen.«
Moritz überlegte, fand aber keine Möglichkeit, wie er sich aus dem ganzen Schlamassel befreien konnte. Ob er wollte oder nicht, und er wollte ganz bestimmt nicht, musste er versuchen, die Burg Drachenzahn und damit Anika zu finden.
»Gut, und wie komme ich dahin?«
»Du musst durch den Kürbiswald.«
Moritz riss die Augen auf. »Ich muss durch diesen Wald?«
»Ganz genau. Es ist der kürzeste Weg zur Burg. Aber nimm dich vor ihm in Acht. Halte dich eng an den Bäumen, dann kann dir so gut wie nichts passieren.«
»So gut wie nichts?« Das war eindeutig genug. »Das können Sie vergessen – auf keinen Fall gehe ich da durch!« Bockig trat Moritz gegen eine Pflanze und wieder war in der Luft ein Rasseln zu hören.
»Mach nicht so ein Theater! Lauf los, pass auf und denk an die Zeit.
In spätestens drei Tagen musst du zurück sein. Und nur, wenn die Sonne am höchsten Punkt steht, kannst du wieder zurück, natürlich nur sofern du das Mädchen dabei hast.«
Moritz lief ein Schauder über den Rücken. Wie sollte er das anstellen, ein Mädchen in einer völlig fremden Welt zu finden, und das auch noch in einer vorgegebenen Zeit? Da hatte er sich ja ganz schön was eingebrockt.
Enttäuscht vergrub Moritz die Hände in den Hosentaschen. Was sollte er nur tun? Schließlich machte er einen ersten Schritt auf den Wald der Kürbisse zu. Es blieb ihm nichts anderes übrig.
Je näher er kam, umso höher ragte der Wald in den Himmel. Die knorrigen Baumriesen, die sich nahezu gradlinig in die Höhe streckten, saßen auf Wurzeln, die wie die Tentakel eines Kraken aus der Erde ragten, und sich an anderer Stelle wieder tief in den Boden bohrten.
An den kräftigen ausladenden Ästen hingen Blätter und Kürbisse.
Moritz überlegte – das, was er da vor sich sah, kam ihm irgendwie bekannt vor. Bloß woher?
Mühsam versuchte er seine Gedanken zu ordnen. Kannte er das aus einem Traum, den er vergessen hatte, und der sich ihm wieder ins Gedächtnis rief? Da fiel es ihm ein, dass es nichts mit einem Traum zu tun hatte. Es war diese Frau Müller gewesen, als sie ihm zu Hause die Hand auf den Kopf legte.
Und da meldete sie sich bei ihm.
»Moritz?«
»Ja?«
»Sobald du den Wald betrittst, wird es mir nicht mehr möglich sein, mit dir zu sprechen. Von da an bist du auf dich allein gestellt. Den Weg zur Burg hast du in deinem Kopf, falls du das noch nicht gemerkt hast. Und wenn du mit Anika zurückkommst, dann geht ihr zu dem großen Stein auf der Wiese und wir können wieder in Kontakt treten. Und jetzt spute dich, erfülle den Auftrag!«
»Nur nicht hetzen, ich gehe gleich los«, sagte Moritz mit einem gewissen Unmut in der Stimme. »Das gefällt mir ganz und gar nicht«, raunte er, betrat den Wald und … »Igitt, was ist das denn?« Angewidert zog er seinen Fuß aus einem Matschloch und wagte sich vorsichtig weiter in den Wald hinein.
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