Die Vier sahen den Kalfaktor verständnislos an.
„Nein, wieso?“, meldete Totila sich verblüfft.
„Na die rote Scheibe draußen an der Tür. Das hier ist ’ne Zelle für Lebenslängliche“, klärte der Kalfaktor die vier Neulinge auf.
„Ich hab’ sieben Jahre“, sagte Totila. „Ich sechs“, erklärte Hannes. „Zehn“, sagte Sebastian.
Der Kalfaktor winkte ab. „Ist ja gut! Rafft eure Plünnen zusammen, ihr kommt in ’ne andere Zelle.“
„Hat jemand Berufung eingelegt“, ließ der Wachtmeister sich hören.
Nach einem Moment erneuter Verblüffung meldete Sebastian sich: „ Ja, ich“, sagte er und hob dazu die Hand, also ich meine wir“, fügte er berichtigend hinzu und deutete auf Totila. Unser Rechtsanwalt hat Revision beantragt.“
Der Wachtmeister nickte und notierte die Namen der beiden in einem Block den er bei sich trug. „Na machen Sie schon „, ließ er sich vernehmen, „packen Sie ihre Sachen!“
„Hätten wir uns gar nicht erst einrichten müssen“, brummte Sebastian, indem er wie alle anderen seine eben noch zusammengelegte Decke wieder auseinander breitete, um dort seine Utensilien aus dem Regal hinein zu werfen.
„Kommen Sie schon“, sagte der Wachtmeister ungeduldig und warf, als alle mit ihren Bündeln auf dem Gang standen, die Türe zu. „Gehen Sie!“ Die Vier setzten sich hintereinander in Bewegung, vorneweg der Stationskalfaktor und zum Schluss der Wachtmeister. Schließlich hielt der Kalfaktor vor einer Zellentür.
Der Wachtmeister trat vor und schloss auf. Die Zelle war, wie Sebastian mit vorgestrecktem Hals erkennen konnte, noch unbelegt. Als dann Totila und er hinter den beiden anderen mit hinein gehen wollten, hielt der Wachtmeister sie zurück. „Sie nicht“, sagte er, schloss die Türe und blätterte kurz in seinem Block.
„Gehen Sie!“, und weiter ging’s an noch ein paar Türen vorbei, alle mit runden grünen Scheiben beklebt, bis fast ans Ende des Gangs. „Halt!“, vernahmen sie wieder die Stimme des Wachtmeisters hinter ihrem Rücken. Die Tür vor der sie standen, wies auch eine dieser runden grünen Scheiben auf, aber mit einem großen schwarzen R darin. Den beiden war klar, dass es sich dabei um eine Revisionszelle handelte, deren Insassen noch keine Glatzen geschoren bekommen hatten.
„Hab ich doch gut gemacht“, brummte Sebastian in Totilas Ohr.
Der nickte nur unauffällig.
Der Wachtmeister öffnete wie immer laut krachend Schloss und Riegel, stieß die Tür auf und wies mit dem Schlüssel in die Zelle. „Alle beide“, sagte er dazu ohne die Meldung der Zellenbelegung abzuwarten, und schon krachte auch hinter ihnen die schwere Türe wieder ins Schloss.
Beide standen dann mit ihren Bündeln in den Armen zwei älteren Schicksalsgenossen gegenüber und alle vier beäugten sich gegenseitig. Es stimmt also, die haben noch Haare auf dem Kopf, stellte Sebastian erleichtert fest. Und Totila fielen die Worte ihres Anwalts ein: Bloß keine Revision! Das kann nur schlimmer werden …` Jetzt sind wir Scheinrevisioner, sagte er sich. Und laut erklärte er: „Zum Glück diesmal keine Zelle für Lebenslängliche. Da waren wir nämlich auch schon.“ Und beide legten ihre Bündel erst mal auf dem Fußboden ab „Na, nun sind wir ja wieder komplett“, begrüßte sie der, der die Meldung versucht hatte.
„Lebenslängliche sind wir hier nicht, aber was habt ihr Kinder denn mitgebracht?“
Sebastian überhörte die leichte Herablassung. „Zehn Jahre“, antwortete er, überzeugt nicht eben von einem Pappenstiel zu reden.“
„Das geht ja schon“, sagte der Ältere mit den kurzen graumelierten Haaren, dem schmalem straffen Gesicht und einer leichten Hakennase.
Sebastian ahnte sogleich, dass hier der Höhe einer Strafe eine ganz eigene Bedeutung beigemessen wurde und dass es sich bei den beiden auch um Politische handeln musste.
„Du meine Güte“, reagierte der andere der beiden, „zehn Jahre“, sagte er, „da ist eure Jugend ja so ziemlich futsch.“ Er erschien äußerlich und in der ganzen Erscheinung als das genaue Gegenstück des großen Hageren mit dem schmalen Gesicht. Ihn zeichnete eine fortgeschrittene Stirnglatze aus, ein rundliches Gesicht und eine mehr füllige Gestalt.
„Was heißt denn: Ist die Jugend dahin …“, fragte Sebastian. „Es gibt Verhältnisse und Umstände, ihr kennt die ja auch“, wandte er sich an die beiden Älteren, „die hauptsächlich in der Abwehr von Zumutungen und in Anfällen von Verzweiflung bestehen. Das gibt es“, sagte er und fügte hinzu: „ So was endet dann eben manchmal auch in solchen Verliesen hier“, dabei wies er mit der offenen Hand in den Raum.
„Es scheint wenigstens so, als ob hier jemand erwachsen werden will“, sagte der mit dem schmalen Gesicht, als er sich Sebastians Auslassungen lächelnd angehört hatte.
Der fragte nun dagegen: „Was habt ihr denn mitgebracht?“
„Zwölf und Fünfzehn Jahre“, bekam er zur Antwort.
„Da habt ihr aber auch ganz schön was zu buckeln.“
„Wie’s kommt so kommt’s eben“, antwortete der mit dem schmalen Gesicht.
„Aber nun schnappt euch mal die Bündel da und räumt euren Krempel ein. Die beiden unteren Betten sind vergeben. Ihr müsst dann mit oben vorlieb nehmen.“
Eine dieser Zellen ähnelte der anderen und so wussten die beiden mit dem Einräumen ihrer Sachen inzwischen Bescheid.
„Seid ihr schon länger hier?“, fragte Totila.
„Wie sollten wir denn?“, antwortete der Schmalgesichtige, „wenn wir noch in einer Revisionszelle sitzen.“
„Na, Revision“, warf Totila ein, „, die könnt ihr ja auch nach zwei oder drei Jahren eingelegt haben.“
„Seht an was für’n cleveres Kerlchen!“ Der mit den graumelierten Haaren lachte.
„Hat sich vergaloppiert und sofort einen Ausweg gefunden. Was ist lange?“, sagte er dann. Wir sind rund drei Monate hier. Ist das viel oder wenig …? Aber was ist das schon gegen fünfzehn oder auch zehn Jahre? Sagt mal, wie alt seid ihr eigentlich?“
„Achtzehn“, sagte Sebastian, „und Totila hier“, dabei wandte er sich kurz dem Freund zu, „ist neunzehn und hat sieben Jahre. Wir beide sind ein Fall und von einem Freund verraten worden.“
„Wie, was für ein Freund?“
„Also genauer, ein alter Freund von mir, leider …“, sagte Sebastian und zuckte dazu mit den Schultern.
„Ja, ja, alte Freunde. Das ist so eine Sache, kommt aber öfter vor“, erklärte der mit der Stirnglatze. „Was hat der denn verraten?“
„Wir haben für Gehlen gearbeitet.“
„Und der Verräter auch?“
„Ja klar, der auch.“
„Also ich muss schon sagen“, mischte der Graumelierte sich ein, „Gehlen …das hätte ich euch gar nicht zugetraut.“
„Andere auch nicht“, sagte Sebastian.
„Na schön, und jetzt hockt ihr hier oben auf Station vier. Und du“, wandte er sich an Sebastian, „bist höchstwahrscheinlich der jüngste Gefangene im ganzen Bau.“
„Mag sein“, sagte der, „aber das ist nur vorübergehend so. Und Station vier hier oben ist doch besser als weiter unten. Dort kann man nicht aus dem Fenster sehen.“
„Na ja wie man’s nimmt“, sagte der Graumelierte. „Doch nun wollen wir uns erst mal bekannt machen. Also ich bin Klaus uud der Kollege hier oder besser Schicksalsgenosse“, und er klappste dem mit der Halbglatze, der dort gegen einen Bettpfosten lehnte, auf die Schulter: „ Das ist Günter. Tja“, fuhr er fort, „der vierte Stock hier? Keiner unter fünf Jahren …“
„Haben wir schon gehört“, warf Totila ein, „und deswegen auch die Lebenslänglichen hier oben?“
„Richtig. Und bis auf drei Mörder, einen Totschläger und zwei die wegen eines Raubüberfalls sitzen, gibts hier oben nur Politische. Und unter den Lebenslänglichen, soweit ich gehört habe, kein einziger Mörder.“
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