„Hast doch Oogen im Kopp“, bullerte dann auch der Wachtmeister, der die beiden Freunde nach oben führte.
„Die seh’n alle wie Vogelscheuchen aus“, raunte Totila Sebastian zu.
„Wo haben die das zerschlissene Zeugs bloß her?“, murmelte der.
Oben angekommen empfing sie ein ebenso großer Raum wie unten im Parterre, mit einem ähnlichen Tresen wie dort. Regale an den Wänden voller Kartons und Schachteln.
„Los, los umzieh’n“, wurden sie auch hier wieder von Gefangenen angetrieben.
„Legt Eure Sachen hier hin“, sagte einer und schlug mit der flachen Hand auf eine Stelle des Tresens.
„Wir haben doch nichts mehr“, warf Sebastian ein, „das hat man uns in der Spreestraße schon abgenommen.“
„Na Eure Klamotten zumindest.“
Und beide begannen sich auszuziehen.
Der Kammerbulle zog sich indes zwei Schachteln über den Tresen.
„Also hier“, fragte er, als die beiden halb ausgezogen vor den geöffneten Schachteln standen, „ist noch alles vorhanden?“ Dazu schob er Totila und Sebastian je eine dieser Pappschachteln zu.
Beide bestätigten die Vollständigkeit der dort gelagerten Sachen, einschließlich Armbanduhren und Geldbörsen, deren Inhalt auf entsprechend eingerichtete Konten überwiesen worden sei, wie man ihnen mitgeteilt hatte. Auf einer Liste unterschrieben sie die festgestellte Vollständigkeit.
Kurz danach standen sie schließlich splitternackt im Raum und kletterten nach kurzer Überwindung in die verschlissenen Anstaltsklamotten.
Spiegel gab es natürlich nirgends, so aber konnte Sebastian sich, wenn er Totila betrachtete, gut vorstellen welch kläglichen Anblick er selbst abgab und umgekehrt: Die Hosen zu lang, die Jackenärmel zu kurz. „Ich seh’ ja um die Beine unten herum wie ’ne Friedenstaube aus“, erklärte er, indem er an sich hinabsah.
„Friedenstaube?“, fragte Totila verächtlich und krempelte sich dabei gebückt die auch ihm zu langen Hosenbeine um. „Bist doch gerade als Kriegsverbrecher verurteilt worden.“
„Quasseln Se nich und machen Se hin!“, trieb der Wachtmeister zur Eile.
Als sie dann in ihrer neuen Verkleidung gerade wieder hinaus auf den Hof getreten waren, bemerkte Sebastian, dass er seinen Taschenkamm in den abgegebenen Zivilklamotten vergessen hatte. Er bat daraufhin den Wachtmeister wegen des vergessenen Kamms doch schnell noch mal die paar Meter zurückgehen zu dürfen.
„Wie hoch is ’n Ihre Strafe“, fragte der.
„Zehn Jahre.“
Der Wachtmeister winkte ab. „Komm Se schon, da brauchen Se doch keen Kamm nich mehr.“
Also tatsächlich Glatze, ging es Sebastian durch den Kopf.
Die beiden Freunde stolperten dann in diesen Holzschuhen, mit den Deckenbündeln in den Armen, über den kopfsteingepflasterten Hof vor dem Wachtmeister her.
„Ein bissel schneller“, monierte der, „ich hab’ hier nich den halben Tag lang Zeit.“
„Wir üben doch das Laufen erst noch“, wandte Totila ein und wies dazu auf die Schuhe an seinen Füßen.
„Hab ich auch noch nich gehört“, murrte der Wachmeister vor sich hin und laut sagte er: „Das könn’ Se später noch dauernd machen. Zeit dazu haben Se ja reichlich mitgebracht.“ Schließlich dirigierte er die beiden auf den Backsteinbau mit den vielen kleinen Fenstern zu.
„Der Zellenbau“, sagte Sebastian gedämpft.
„Da haben wir den Salat!“, murmelte Totila.
Ein älterer Wachtmeister trat, als sie davor standen, von innen an die Gittertür und schloss auf. „Komm’ Se schon“, sagte der und: „Bleiben Se da steh’n.“ Er wies dazu auf eine Stelle an der Wand. Beide Wachtmeister verschwanden dann hinter einer anderen Tür.
Nach einiger Zeit, die die beiden Neuen in Erwartung allen Übels schweigend mit sich selbst beschäftigt verbracht hatten, trat ein dritter Posten aus dieser Tür und schloss das Gitter zum Treppenhaus auf. „Kommen Se!“ Es ging über hohe glatte Granitstufen aufwärts … „Verdammter Mist! Das geht hier wirklich bloß mit Übung“, brummte Sebastian, als er mit einem seiner Holzschuhe leicht seitwärts weggerutscht war.
An jedem Stockwerk und Treppenabsatz mit hohen vergitterten Fenstern gab es wieder Gittertüren. Gitter, überall Gitter … Und immer das dröhnende Krachen der Schlösser, das durch den ganzen Bau hallte, wenn die Wachtposten Zellen- und Gittertüren auf und wieder zuschlossen. Eine verschlossene Welt, machte Sebastian sich klar, die nur Schließer oder Eingeschlossene kennen. In Ku’damm Kinos, in amerikanischen Krimis, hatte er schon ähnliches gesehen: So einen Lichtschacht oben vom Dach bis hinab in den Keller und diese darüber gespannten grobmaschigen Drahtnetze, die er allerdings bereits von der Spreestraße her kannte. Und jetzt befanden sie sich mittendrin in so einem Film, der kein Film war … Das Treppensteigen endete schließlich ganz oben. Das Dach selbst mit Reihen kleiner Fenster über dem Lichtschacht war dort recht nah. Um jede Seite dieses Schachts lief eine hölzerne Galerie wie auf allen Stockwerken mit je einem eisernen Geländer an der Seite zum Schacht und eisenbeschlagenen grau gestrichenen Zellentüren mit weißen Nummern links und ebenso rechts des Schachts.
Dann klapperten sie beide mit den schweren Botten, Holz auf Holz, über die Galerie der rechten Seite, vorbei an diesen grauen Türen, bis zur Nummer 96.
„Halt! Bleiben Sie steh’n!“ Der Schließer blickte kurz durch den Spion und schloss die Türe auf.
In der Zelle standen zwischen doppelstöckigen hölzernen Bettgestellen ziemlich verunsichert zwei Vogelscheuchen wie sie selbst. Der ältere von beiden versuchte eine Meldung. Der Schließer winkte ab. „Na geh’n Se schon, geh’n Se da rein.“, forderte er die beiden Neuen auf. Dazu wies er mit dem Schlüssel in die Zelle und so gesellten die beiden sich mit ihren Bündeln zu den verschreckten Schicksalsgenossen, während die Türe hinter ihnen wieder ins Schloss krachte.
Beide warfen ihre Bündel auf zwei unbesetzte Betten.
Nach einer kurzen ersten Begrüßung sah Totila sich in der Zelle um. „ Wenigstens besser als bei der Stasi“, erklärte er.
Sebastian stimmte dem zu. „Aber den Scheißkübel in der Ecke“, sagte er, „den haben wir auch hier wieder. Und wenn ich mir dazu vorstelle, viele Jahre in so’ner Zelle?“ Er schüttelte den Kopf und wandte sich den beiden andern zu: „Ihr seid doch auch noch nicht lange hier oder?“
„Nee, auch erst seit gestern“, sagte der Jüngere und nannte seinen Namen: „Hannes, Hannes Kretschmann. Und das hier ist Herbert.“ Dazu schlug er dem Älteren auf die Schulter und reichte den beiden Neuen die Hand.
„Hannes? Hannes …?“, sinnierte Sebastian laut. Dann blickte er Hannes Kretschmann an.
„Wir haben doch miteinander geklopft …?“
Hannes grinste, nahm die hölzerne Zahnbürste aus seinem Aluminiumbecher in einem Regalfach und klopfte damit seinen Namen gegen die Zellenwand.
Sebastians Gesicht hellte sich auf. „Die Zelle über mir“, sagte er. „Na klar“, fuhr er fort, „du warst doch bei dieser Kampfgruppe in West-Berlin?“
„KgU“, sagte Hannes Kretschmann und nickte.
„Und jetzt bist du hier zum zweiten Mal im Knast, hattest du mir jedenfalls durchgeklopft oder?“
„Zum dritten Mal“, berichtigte Hannes, „aber diesmal politisch, Artikel 6.“
„Ja und die andern Male …?“
„Diebstahl von Volkseigentum. Hab aus ’nem Betrieb Werkzeug mitgehen lassen.“
„Du bist ja einen Tag vor uns verurteilt worden. Was haben sie dir denn dafür eingeschenkt?“
„Sechs Jahre.“
„Artikel 6?“
„Ja, natürlich“, beeilte Hannes sich zu bestätigen. Ich war ja auch schon mal wegen Körperverletzung verurteilt. Drei Jahre. Hab den Sohn vom Parteisekretär vertrimmt. Und im Knast hab’ ich dann Politische getroffen, so’ne wie euch, Artikel 6er.“
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