Der Verzweiflung nahe lässt sie sich in den geräumigen Rattansessel plumpsen, legt ihre Arme auf die breiten Lehnen, presst ihre Lippen zusammen und runzelt die Stirn.
„Warum nur? Warum ausgerechnet jetzt?“, seufzt Agnes leise vor sich hin.
Ihr Blick fällt auf das große Bett mit dem engmaschigen Moskitonetz. Das Bett ist ein großer Rahmen auf vier Beinen aus Rattan, ein Rohrgeflecht, auf dem eine dichte Matte das Lager bildet. Die vier Pfosten verlängern sich über das Rohrgeflecht und sind oben mit leichten Leisten verbunden. Diese dienen dazu, das Moskitonetz zu tragen. Das ist ein dünnes Gewebe, das der Luft, aber nicht den kleinen, stechenden Plagegeistern Durchgang gewährt. Beim Schlafen hilft das Moskitonetz außerordentlich, aber zugleich lässt es doch nur wenige Luftzüge durch, sodass das Schlafen durch das ständige Schwitzen zur Qual wird.
Aber nicht nur die Moskitos plagen die Menschen. Auch kleine Ameisen sind so verbreitet, dass sie quasi überall sind. Nicht so sehr ihr Biss ist zu fürchten, sondern vielmehr ihr schier massenhaftes Auftreten. Nichts ist vor ihrer Fressgier sicher. So muss der Tisch mit der Mahlzeit mit den Beinen im Wasser stehen und darf nicht die Wand berühren. Sonst schleichen sich die Tierchen ein. Auch die Bettpfosten stehen im Wasser, damit man nicht des Nachts von umherkrabbelnden Ameisen übersät aufwacht. Aber es ist darauf zu achten, dass alle paar Tage das Wasser in den Becken, in denen die Beine stehen, erneuert wird. Der sich auf dem Wasser ablagernde Staub bildet ansonsten eine Brücke, die die emsigen Ameisen gerne nutzen.
Ein festes Kopfkissen mit roher Baumwolle vollgestopft und eine Rolle, „abrazador“ genannt, ebenfalls gefüllt mit Baumwolle, die zum Einlegen zwischen die Beine dient, damit die Knie nicht aufeinander liegen, vervollständigen das Bett. In der kühleren Jahreszeit nimmt man eine leichte Wolldecke zum Zudecken dazu.
Die kleinen, surrenden Quälgeister haben Agnes schon ganz schön zugesetzt. Dabei schaut sie auf ihre Arme, die von rötlichen, geschwollenen Stichen übersät sind. Auch ihre Knöchel haben etliche Stiche abgekommen. Wie das juckt. Fürchterlich. Dabei hat sie immer darauf geachtet, dass ihre Arme und Beine bedeckt sind. Aber diese Biester haben sie durch ihre Seidenstrümpfe und dünnen Ärmel ihrer Bluse hindurch traktiert. Eine schöne glatte weiße Haut, auf die sie immer so stolz ist, sieht anders aus. Zum Glück sieht das ja niemand. Aber Agnes machen die rötlichen Flecken schon zu schaffen. Mit ihrer recht schlanken Figur und den kastanienbraunen lockigen Haaren sieht sie eher durchschnittlich aus. Nicht besonders hübsch, so ihre Selbsteinschätzung.
Aber darüber will sie nicht jammern. Onkel Ferdi kümmert sich reizend um sie und versucht, es ihr so bequem wie nur möglich zu machen. Die Lage seines Hauses, das zugleich als Konsulat dient, ist sehr zentral. Die Calle Anloague befindet sich in unmittelbarer Nähe zu der geschäftigen Calle Escolta, die wiederum am Pasig Fluss liegt.
Viel Ruhe gibt es dadurch aber nicht, außer um die heiße Mittagszeit, wenn ganz Manila ihre Siesta macht. Ansonsten herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, ein Klappern der Kutschen, ein Rufen und Schreien der geschäftigen Händler, dazwischen das unaufhörliche Gekläffe der Hunde, dann das Platschen und laute Knallen der in kurzen Abständen heraufziehenden tropischen Regengüsse. Wie unversehens die ganze Escolta unter Wasser steht, versetzt Agnes immer wieder in Erstaunen. So schnell die Wassermassen gekommen sind, so schnell verschwinden sie aber auch wieder. Sofort danach setzt die Geschäftigkeit wieder ein und alles beginnt von vorne.
Auf der anderen Seite des Flusses ragt das spanische Machtzentrum mit dem Fort Santiago empor. Mit seinen zweihundertsechsundzwanzig Geschützen jeglichen Kalibers schützt es Intramuros, die von Mauern umgebene Altstadt von Manila. Dort residieren und herrschen die spanischen Gouverneure mit ihren Beamten und vor allem die spanischen Geistlichen aller möglichen Orden. Sie sind die wahren Herren der Philippinen, so sagt zumindest Onkel Ferdi.
Das Manila außerhalb von Intramuros sieht anders aus. Hier wohnen all die Leute, die eine solch große Stadt am Leben erhalten. Um die Versorgung kümmern sich die Bauern, Fischer, Kleinviehhalter, Bäcker, Konditoren, Wursthersteller, Fleischer, Schnapsbrenner, Weinverkäufer, Palmweinhersteller und alle weiteren Produzenten von Waren rund um das Essen und Trinken. Für die zahlreichen Bauten stehen Zimmerleute, Dachdecker, Ziegelbrenner, Klempner und Metallarbeiter zur Verfügung. Dann gibt es Schneider, Apotheker, Silberschmiede, Mattenflechter, Kerzendreher, Schildermacher und Drucker.
In den letzten Jahren sind Zigarrenmanufakturen, Hanfdrehereien, Zuckerraffinerien, die San Miguel Bierbrauerei, die gewaltigen Fabrikgebäude für Tanduay-Rum mit ihren gigantischen Schornsteinen, den höchsten Manilas, geradezu aus dem Boden geschossen. Hier haben viele Frauen als Arbeiterinnen Beschäftigung gefunden. Daneben fristen die zahlreichen ungelernten Arbeiter, die für Hilfsarbeiten angeworben werden, ihr Dasein. Sie schachten Kanäle aus, arbeiten an den Kais oder pflastern die Straßen.
Schon bald wird Agnes aber von einem ganz anderen Gedanken abgelenkt. Selbstmitleid macht sich bei ihr breit. Wie kann es sein, dass gerade in dem Moment, als sie wieder aus Manila abreisen will, die Amerikaner mit ihren großen Schiffen ankommen und die gesamte spanische Flotte in Grund und Boden bohren? Ist es nicht schon ein Jammer, dass diese kleinen braunen Aufständischen immer weiter auf Manila vorrücken und die Stadt einschließen, sodass man auch gar keine unbeschwerte Ausfahrt mehr in die Umgebung unternehmen kann?
Und nun das. Die Amerikaner haben eine Blockade über die Bucht von Manila verhängt. Kein Schiff darf mehr einlaufen beziehungsweise auslaufen.
Dabei war alles so schön geplant. Sie wollte am übernächsten Tag mit einem britischen Dampfer nach Singapur reisen und dort einen Postdampfer des Norddeutschen Lloyd nach Bremerhaven nehmen. Alle Reservierungen waren schon vorgenommen worden.
Aber nun ist die Bucht von Manila wie zugenäht. Bei diesen Worten läuft doch ein kleines Schmunzeln über ihre schmalen blassroten Lippen. Das sich aber dann doch schnell wieder verzieht.
Eigentlich war es eine ganz gute Idee von ihrem Vater, sie auf eine Reise in die Tropen fern der Heimat zu schicken. Das Abenteuer sollte sie auf andere Gedanken bringen. Nachdem sie die Nachricht von dem Untergang des Salpeterdampfers Wiedenau mit Mann und Maus, kurz nachdem er Valparaíso im fernen Chile verlassen hatte, erreichte, war Agnes in eine wochenlange Depression verfallen. Der Verlust ihres Verlobten Hermann, der Erster Offizier auf der Wiedenau war, hatte sie bis ins Mark getroffen.
Die ohnehin schlanke Agnes war bis auf die Knochen abgemagert. Nichts schien zu helfen. Natürlich trug das typische schmuddelige Winterwetter Hamburgs auch nicht dazu bei, die trübselige Stimmung aufzuhellen. Und dann das fürchterliche Mitleid der ganzen Familie und ihrer Freunde. Solch ein Trost tat ihr in der Situation zunächst gut, aber als er nicht aufhörte, fiel es ihr schwer, wieder halbwegs ins normale Leben zurückzukehren.
In dieser für alle verfahrenen Situation hatte dann ihr Vater die Idee, den Zufall, dass Onkel Ferdinand zum Konsul im fernen Manila im letzten Jahr ernannt worden war, zu nutzen. Kurzerhand setzte er sich mit Onkel Ferdinand in Verbindung und erhielt von ihm die Zustimmung, Agnes zu ihm zu schicken, damit sie im wahrsten Sinne des Wortes auf andere Gedanken kommt. Eine ungewöhnliche Entscheidung. Aber so ist ihr Vater nun einmal.
Mit ihren gerade einmal vierundzwanzig Jahren konnte sie nicht dauerhaft in Depression verfallen. Das war auch ihr in klaren Momenten offensichtlich geworden. Erst widerwillig, dann aber doch mit etwas größerer Zuversicht, stimmte sie schließlich der Idee ihres Vaters zu.
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