Elin zuckt zusammen, als hätte sie einen Schlag bekommen. Sie senkt rasch den Kopf und nestelt an einem herunterhängenden Zipfel des Tischtuchs. Michael wirft ihr einen prüfenden Blick zu. „Schatz, alles in Ordnung?“
„Oder gibt’s doch Verwandte dort oben, die ich besuchen könnte?“
Elin schüttelt verneinend den Kopf. Ihre Augen glänzen verräterisch, ihr Blick irrt unstet zwischen ihrem Mann und ihrer Tochter hin und her.
Michael bemerkt es mit Staunen. Was sie wohl vor uns, vor mir verbirgt? Er schluckt einen bitteren Geschmack hinunter. Nicht einmal ihm vertraut sie. Das schmerzt.
„Naja, wie du meinst. Ich sollte jetzt langsam aufbrechen. Morgen geht’s in aller Frühe los und ich muss noch meine Sachen packen.“ Julia nimmt ihre Mutter in den Arm. „Wenn ich wieder zurück bin, dann müssen wir reden“, sagt sie leise.
„Wir werden sehen. Aber bitte versprich mir, dass du auf dich aufpasst. Wenn was ist, dann ruf sofort an.“
Julia blickt ihre Mutter irritiert an. „Was soll denn sein? Denkst du an was Bestimmtes?“
Michael streicht Julia über die Haare. „Deine Mutter hat das nur so gesagt. Wir wünschen dir eine schöne Zeit“, betont er und legt beschützend den Arm um seine kleine Frau.
„Ich habe das nicht nur so daher gesagt“, murmelt Elin.
Julia dreht sich am Gartentor noch einmal um, winkt ihren Eltern zu, dann steigt sie in ihr Auto. Im Rückspiegel sieht sie ihre Mutter, die auf die Straße getreten ist und winkt. Ein verzweifeltes Winken, so als wäre es ein Abschied für immer. Julia schluckt. Sie ist froh, wegzukommen.
Ihr ist, als würde sie plötzlich einen schweren Mantel tragen, gewebt aus Schicksal und Leid. Auf ihrer Brust lastet ein Gewicht und ihr Herz pocht dumpf. So kann sie nicht nach Hause fahren. Kurz entschlossen biegt sie in die Straße ein, die zum See hinunterführt. Wenig später schlendert sie die Seestraße entlang. Langsam entspannt sie sich und es gelingt ihr, den schweren Mantel wieder abzustreifen.
Die Terrasse des Seehotels Riva wirkt so einladend, dass sie sich entschließt, dort einzukehren. Sie findet einen freien Tisch unter einem cremefarbenen Sonnenschirm. Während sie genüsslich an ihrem Eiskaffee nippt, lässt sie ihren Blick über die blühenden Rhododendrenhecken des Hotelgartens und über die dahinter vorbeiführende Seestraße schweifen. Es herrscht ein buntes, sonntägliches Treiben. Spaziergänger, Hunde, Kinder, Badende mischen sich mit Radfahrern und Joggern.
Der blaue See, auf dem Segelboote dahingleiten, im Hintergrund die Schweizer Alpen, die sich in einen leichten Dunst hüllen, das alles erfüllt Julias Seele mit Frieden und gibt ihr nach und nach die Leichtigkeit zurück, die ihr die Mutter genommen hat.
Beschwingt kehrt sie nach Hause zurück.
Elin greift nach Michaels Hand. „Komm mit mir, ich möchte dir etwas zeigen.“
Sie zieht ihn mit sich die Treppe hinauf und öffnet die Tür zu ihrem Atelier.
Ein großer, ausgebauter Raum unter dem Dach ihres Einfamilienhauses mit einer breiten Fensterfront. Das späte Morgenlicht fällt in schräger Bahn durch das Glas und zeichnet helle Streifen auf den dunklen Holzboden.
Elin blickt zum Fenster hinaus. Ein traumhafter Blick über den See, bis hin zu den Schweizer Alpen.
Michael überreichte ihr zu ihrem dreißigsten Geburtstag ein Kuvert. Als sie es aufriss, fand sie eine Skizze ihres zukünftigen Ateliers darin. Ein paar Wochen später begann er mit dem Dachausbau. Seitdem ist hier ihr Rückzugsort, wo sie in all den Jahren mit Pinsel, Farben und Kreiden in ihre Heimat gereist ist.
Elin dreht sich zu ihrem Mann um, geht an ihm vorbei und öffnet eine Schublade ihrer Zeichenkommode.
„Schau Michael, das ist meine Heimat, mein Island, wie ich es in Erinnerung habe“, sagt sie leise und entnimmt einer Mappe große bemalte Papierbögen.
Bunte Holzhäuser vor grünen Vulkanbergen und schneebedeckten Gletschern, mächtige Lavafelsen im aufgewühlten Meer, Wasserfälle und blühende Wiesen sind zu sehen.
„Sie sind wunderschön“, sagt er leise und räuspert sich.
Elin kniet sich zu ihm auf den Boden und schaut ihn erwartungsvoll an. „Ich habe meine Heimat nie vergessen, auch wenn es auf euch so wirken muss. Manchmal ist das Heimweh so stark, dass ich die Bilder, die in mir aufsteigen, malen muss, sonst würde ich es nicht ertragen“, flüstert sie und wischt sich die aufsteigenden Tränen aus den Augen.
„Michael nickt und greift nach ihrer Hand. „Danke, dass du sie mir gezeigt hast.“
„Ich werde die Geschichte aufschreiben. „Ich muss mich endlich mit der Vergangenheit auseinandersetzen und Frieden schließen.“
„Und dann gehen wir zusammen nach Island“, schlägt Michael begeistert vor. Ich möchte deine Heimat gern kennenlernen.“
Elin schüttelt traurig den Kopf. „Ich glaube nicht, dass ich jemals wieder zurückkehren kann. Die Unsichtbaren werden es nicht erlauben.“
„Schatz, was hat es mit diesen Unsichtbaren auf sich? Wer sind sie?“ Michael spürt, dass ihm trotz der Hitze ein kalter Schauer den Rücken hinunterläuft.
„Du wirst es erfahren. Aber gib mir noch ein wenig Zeit. Bitte!“
Michael nickt und erhebt sich mühsam. „Die alten Knochen“, stöhnt er lächelnd.
Elin legt die Bilder vorsichtig in die Kommode zurück.
„Lass uns einen Seespaziergang machen. Ich brauche jetzt Bewegung“, schlägt Elin vor und greift nach Michaels Hand.
Sie bleiben stehen und blicken auf den See mit seinen glitzernden Lichtpunkten. Warmer Wind streichelt ihre Gesichter, Wellen plätschern halbherzig ans Ufer und ein Schwarm flatternder, kreischender Möwen streitet um ein aufgeweichtes Stückchen Brot, das ans steinige Ufer geschwemmt wurde.
„Weißt du, Island besitzt nicht diese Lieblichkeit. Seine Schönheit ist rau und kraftvoll. Nicht jeder fühlt sich dort wohl, doch ich habe die Insel immer geliebt.“
Michael sieht den Schmerz in ihren Augen. „Jetzt lade ich dich ins Strandcafé ein.“ Er legt den Arm um sie und zieht sie an sich.
Auf der Badewiese herrscht munteres Treiben. Beachvolleyballspieler, Sonnenhungrige auf ihren Handtüchern und planschende, juchzende Kinder. Das Sonntagsprogramm an einem Sommertag am Bodensee.
Elin löffelt genüsslich ihren Eiskaffee, während Michael sich mit einem kühlen Weizen erfrischt.
„Geht’s dir wieder besser?“, fragt er seine Frau.
Elin nickt und deutet lächelnd auf seinen Mund. „Bierschaum.“
Michael wischt sich grinsend über den Mund, dann wird er ernst. „Ich werde irgendwann mit dir nach Island fahren, das schwör ich dir.“
Elin blickt ihn erstaunt an. „Das wäre schön“, flüstert sie, „aber …“
„Kein Aber. Wir werden uns doch nicht von irgendwelchen Geistern einschüchtern lassen.“
Elin zuckt mit den Schultern. Vielleicht hat er recht. Sie wünscht es sich so sehr.
Julia
Julia wird vom Rauschen des Regens geweckt. Schwungvoll verlässt sie das Bett. Nach einer erfrischenden Dusche kehrt sie ins Schlafzimmer zurück, schlüpft in die bereitgelegte hellblaue Jeans und einen dunkelblauen Baumwollpulli.
Nach einem hastig eingenommenen Frühstück verlässt sie mit ihrem Gepäck die Wohnung und steigt in das wartende Taxi.
Ihr Islandabenteuer beginnt.
Das Flugzeug verliert an Höhe und bereitet sich auf die Landung vor. Kurz darauf setzt es mit einem harten Ruck auf der Landebahn auf.
Julia blickt durch das kleine Fenster. Der Flughafen von Keflavik. Regennasser Asphalt unter einem trüben, wolkenverhangenen Himmel.
Sie zupft aufgeregt an ihrem Zopf. Die Frage, die sie sich schon während des Fluges gestellt hat, drängt sich wieder in den Vordergrund. Wie wird sie sich hier fühlen, im Land ihrer Eltern und Vorfahren? Wird sie überhaupt etwas spüren? Vielleicht ist es einfach nur eine Urlaubsinsel?
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