Elin schlägt die Bettdecke zurück, steht leise auf, um Michael nicht zu wecken, und tritt ans offene Fenster.
Es ist eine dunkle Nacht, ohne das tröstliche Funkeln der Sterne und das milde Licht des Mondes. Aus dem Garten ertönt das heisere Rufen eines Käuzchens, von Ferne sind zwölf dumpfe Schläge der Kirchturmuhr zu hören, ansonsten Stille.
Sie seufzt unwillkürlich laut auf, hält sich jedoch sofort die Hand vor den Mund und horcht auf Michaels tiefe Atemzüge.
Jahrzehntelang war es ihr gelungen, die Erinnerungen auf dem Grund ihrer Seele verborgen zu halten, gleich einem festverschnürten Paket. Nun hat ihre Tochter begonnen, die Paketschnur durchzuschneiden und das Packpapier zu entfernen.
Elin wischt sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn. Zu den dunklen Gedanken gesellt sich eine drückende Schwüle, die das Schwere, das auf ihrer Seele lastet, verstärkt. Ein gleißender Blitz durchtrennt plötzlich die Dunkelheit und taucht für einen Moment Bäume und Sträucher in ein fahles, grünliches Licht.
Kurz darauf ein ohrenbetäubender Donnerschlag.
Elin zuckt erschrocken zusammen und tritt hastig vom offenen Fenster zurück.
„Kannst du auch nicht schlafen?“ Michael tritt hinter sie.
„Mir gehen so viele Dinge durch den Kopf“, erwidert sie, lehnt sich an ihn und legt ihren Kopf an seine Brust. Der kräftige, gleichmäßige Schlag seines Herzens beruhigt sie.
Mittlerweile folgt Blitz auf Donner. Ein böig auffrischender Wind bläht die weiße Gardine wie ein Segel.
„Der Disput mit Julia?“
Elin nickt und seufzt.
„Du solltest endlich mit ihr reden.“
„Ich kann nicht!“
„Wie willst du ihr sonst deine heftige Reaktion von gestern Mittag erklären?“
Elin schüttelt eigensinnig den Kopf und tritt wieder ans Fenster. Das Gewitter hat sich entfernt und einem leichten Sommerregen Platz gemacht. Eine Windböe fährt ihr ins Gesicht. Sie atmet tief die gereinigte, kühle, nach Ozon riechende Luft ein.
„Ich kann nicht darüber sprechen, schon gar nicht mit Julia.“
„Meinst du nicht, dass gerade sie ein Recht auf die Wahrheit hätte? Es ist schließlich auch ihre Geschichte. Du könntest sie aufschreiben, vielleicht fällt es dir auf diese Art leichter.“
„Lass mich, bitte!“ Elin nimmt das breite Wolltuch, das über der Stuhllehne hängt, und wirft es sich über die Schultern. Sie streift mit einer sanften Berührung seine Hand ab und verlässt das Schlafzimmer.
„Es tut mir leid“, murmelt sie.
Michael weiß aus Erfahrung, dass es jetzt keinen Wert hat, weiter mit ihr zu diskutieren. Jetzt verkriecht sie sich wieder in ihrem Schneckenhaus und verwehrt jedem den Eintritt.
Michael lauscht ihren leichten Schritten, mit denen sie die Treppe hinuntereilt. Seine schöne, geheimnisvolle Frau. Mit einem Seufzer kehrt er ins Bett zurück.
Elin geht ins Wohnzimmer und kauert sich in den großen Ohrensessel, der vor dem Kamin steht. Ihr Lieblingsort, wenn sie nachdenken oder sich entspannen möchte.
Stille und Dunkelheit, die nur durch sanftes Rauschen des Sommerregens und fernes Wetterleuchten durchbrochen werden.
Sie weiß, dass sie endlich mit ihrer Tochter sprechen muss, doch sie kann nicht. Sie hat Angst vor dem grauen Schleier, der sich sofort wieder auf ihrer Seele niederlässt, sobald sie der Vergangenheit die Tür öffnet.
Doch vielleicht hat Michael recht, und es wäre leichter, die Geschichte niederzuschreiben? Vielleicht könnte sie auf diese Weise das Vergangene verarbeiten und dann endgültig hinter sich lassen?
Doch wann beginnt ihre Geschichte eigentlich?
Hat sie nicht bereits ihren Ursprung viel, viel früher, als die kleine Elin noch gar nicht geboren war? Gibt es nicht immer Geschichten vor den Geschichten? Schicksalsfäden, die von früheren Generationen bis ins jetzige Leben hineingesponnen sind? Großmutter, Mutter, Kind und Enkelin?
Elin fröstelt und zieht den Schal enger um die Schultern. Sie kennt den roten Faden, der die Frauen ihrer Familie miteinander verbindet, hat in ihrer Kindheit immer wieder Bruchstücke aufgeschnappt, die ihr wie vergiftete Brotstückchen hingeworfen wurden. Von Saga, Katla, den Nachbarn. Als Kind die Bedeutung noch nicht verstehend, doch die Seele verletzend.
Trollenkind.
Sie lacht schmerzhaft auf. Wie weh das tat.
„Trollenkind“, spricht sie mit brüchiger Stimme leise vor sich hin. „Trollenkind.“
Julia
Mit gehetztem Blick dreht sie sich einmal um sich selbst. Hier muss es doch eine Straße, Häuser oder wenigstens einen erkennbaren Pfad geben. Doch soweit ihr Auge reicht, nur braune Lavasteine zu bizarren Formationen aufgehäuft.
Wo ist sie?
Wie ist sie bloß hierhergekommen?
Ein eisiger Wind beißt sie ins Gesicht und wirbelt Schneeflocken in einem wilden Tanz durcheinander.
Plötzlich sieht sie in der Ferne eine Bewegung. Sie wischt sich über die tränenden Augen und starrt in das undurchsichtige Blaugrau, das sich über die Landschaft gelegt hat.
Tatsächlich. Drei Gestalten mit wehenden Gewändern kommen direkt auf sie zu.
Ihr Herz schlägt wie verrückt. Sie presst die Hand darauf. Jetzt wird alles gut. Sie ist nicht mehr allein.
Als sie vor ihr stehen, erkennt sie, dass es sich um Frauen handelt. Schlank, groß, in weiße Tücher gehüllt.
Sie lächelt ihnen zu, möchte sie grüßen, doch die Worte bleiben ihr im Hals stecken, als sie in kristallblaue Augen blickt, aus denen ihr kein Lächeln, kein Wohlwollen entgegenkommen.
Eine arktische Kälte geht von ihnen aus und trifft sie bis ins Mark.
Voller Entsetzen wird ihr bewusst, dass sie von ihnen keine Hilfe erwarten kann. Im Gegenteil. Sie rennt los.
Julia wird durch ihr eigenes Keuchen geweckt. Ruckartig setzt sie sich im Bett auf, für einen Moment orientierungslos.
Sie knipst die Nachttischlampe an. Helligkeit erfüllt den Raum und löst die bedrohliche Situation auf.
Ihr Blick fällt auf den Wecker. Vier Uhr.
Erste zaghafte Amselgesänge klingen durch das offene Schlafzimmerfenster.
Was war denn das für ein furchtbarer Traum?
Aus Angst, wieder in das Geschehen zurückzugleiten, verlässt sie das Bett, geht in die Küche und füllt ein Glas mit kaltem Wasser. Das eben Erlebte hinunterspülen, doch die Traumbilder wollen nicht weichen. Sie sieht die Frauengestalten immer noch so deutlich vor sich, als hätten sie den Traum verlassen und befänden sich ganz in der Nähe.
Julia schüttelt unwillig den Kopf. So ein Quatsch! Weg mit diesen unguten Gefühlen.
Sie hat noch nie an Traumdeutung und unsichtbare Phänomene geglaubt und wird jetzt mit fünfunddreißig auch nicht damit anfangen.
Sie geht zurück ins Schlafzimmer und stellt das Wasserglas auf den Nachttisch. Noch ein wenig schlafen wäre schön. Sie kuschelt sich unter die Decke, doch es gelingt ihr nicht, zur Ruhe zu kommen.
Der gestrige Besuch bei ihren Eltern kommt ihr in den Sinn. Die übersteigerte Reaktion ihrer Mutter, als sie von ihrer geplanten Reise nach Island erzählte.
„Nein, nicht nach Island“, rief ihre Mutter entsetzt aus.
Am Kaffeetisch wurde es mit einem Mal still, die Bewegungen wirkten plötzlich wie eingefroren. Ihr Vater, ihr Bruder David und Julia starrten erschrocken Elin an, die von ihrem Stuhl aufgesprungen war und mit blassem Gesicht ihre Tochter anstarrte.
„Nein, überallhin, nur nicht nach Island“, wiederholte sie leise. Sie wirkte wie zerbrochen.
„Was hast du gegen Island? Schließlich bist du dort geboren.“ Julia sah ihre Mutter fragend an.
„Du darfst nicht dorthin! Mehr kann ich dazu nicht sagen“, antwortete Elin, drehte ihr den Rücken zu und flüchtete ins Haus.
„Ich habe bereits gebucht. Übermorgen fliege ich nach Reykjavik, mache eine Rundreise durch den Südwesten und fahre im Anschluss nach Nordisland auf einen Reiterhof. Ich freue mich darauf und lasse mir das von ihr nicht vermiesen“, warf Julia ärgerlich in die erstaunte, schweigsame Runde. Unwirsch zwirbelte sie an ihrem Zopf.
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