Tatsächlich scheint lediglich in Stills Schriften eine klar umrissene Identität vorzuliegen, die von ihm zudem im therapeutischen Alltag ungeachtet juristischer oder medizinischer Einschätzungen konsequent umgesetzt wurde. Allein dieser Aspekt sollte für die moderne Osteopathie bereits ausreichen, um sich wieder ernsthafter und umfassender mit den Schriften ihres Gründers zu beschäftigen. Neben der Tatsache, dass die Osteopathen nach Still es offensichtlich versäumt haben, sich ernsthaft mit seinem therapeutischen Gesamtkontext auseinanderzusetzen, trifft dies umso mehr für seinen umfassenderen allgemeinen (philosophischen) Gesamtkontext zu, innerhalb dessen der therapeutische Kontext mit seinen Einzelaspekten zwar einen bedeutenden, aber eben nur einen Bereich darstellt. Hierauf bezogen gibt es in der Osteopathiegeschichte nur sehr wenige, wirklich ernstzunehmende Arbeiten, die ich im nachfolgenden Kapitel kurz aufführen möchte.
1.4. PHILOSOPHIE IN DER STILL-FORSCHUNG
Bereits 1919 verfasste E. Tucker einen Artikel mit dem Titel Dr. Still, the Metaphysician , wobei Tucker jedoch im Wesentlichen seine eigenen Vorstellungen zur Metaphysik auf Still übertrug. Eine kritische Überprüfung bzw. Darlegung an konkreten Beispielen bleibt er uns jedenfalls schuldig [Tucker 1919]. Ansonsten finden sich bis vor etwa 20 Jahren nur fragmentarische Abhandlungen von geringem wissenschaftlichem Wert zum Thema. Ein Grund für diesen Stillstand mag auch darin liegen, dass man bereits vor ca. 100 Jahren am A. T. Still Research Institute in Pasadena erstmals den Versuch unternommen hatte, Stills Schriften auf einfache Prinzipien zu reduzieren. Die daraus entstandenen vier Grundsätze wurden 1953 im Auftrag der American Osteopathic Association (AOA) am damaligen Kirksville College of Osteopathic Medicine (KCOM) nochmals untersucht und geringfügig überarbeitet [Gevitz 2006]. Diese AOA-Lehrsätze wurden später auch von den meisten Osteopathie-Verbänden außerhalb der USA weithin anerkannt; und so sah man offensichtlich keine Notwendigkeit mehr, sich mit der Materie weiter auseinanderzusetzen. Dies galt umso mehr, als Stills Originalschriften lange Zeit nicht mehr verfügbar waren. Da die Richtlinien keiner weiteren kritischen Überprüfung unterzogen wurden, fiel demzufolge auch bis heute nicht auf, dass die philosophischen Aspekte in Stills Schriften dabei gänzlich unbeachtet blieben.
Erst mit der Wiederauflage der vier Bücher Stills im Jahr 1994 sowie einer Vielzahl seiner Artikel [Schnucker 1991] und dem damit verbundenen Aufblühen der Forschung zur Osteopathiegeschichte trifft man wieder zunehmend auf Arbeiten, die sich ernsthaft dem Philosophie-Begriff Stills widmen [McKone 2001, Pöttner und Hartmann 2005, McGovern 2013, Paulus 2015]. Die wissenschaftlich bedeutsamste Veröffentlichung stellt hierbei meines Erachtens das umfassende Vorwort des Religionswissenschaftlers und Philosophen Martin Pöttner zu Das große Still-Kompendium dar [Still 2005, xii-xxix]. Ihr zur Seite gestellt werden kann zudem die bemerkenswerte und leider unveröffentlichte Masterarbeit des kanadischen Osteopathen Matvey Kipershtein [Kipershtein 2013]. Das vorliegende Buch bildet nun die jüngste und umfassendste Veröffentlichung zum Thema. Der Fokus wird hierin auf den philosophischen Gesamtkontext in Stills Schriften gelegt. Die sich erst sekundär daraus ableitenden praktisch unmittelbar relevanten Aspekte und ihre Bedeutung – bezogen auf die Osteopathie als Ganzes und den Osteopathen als Person – werden ebenfalls angesprochen. Eine umfassendere Ausführung zum Themenkomplex Philosophische Osteopathie finden sie im Vorwort des vorliegenden Werkes.
1.5. BEMERKUNG ZUR SPIRITUALITÄT
Noch eine kurze Bemerkung zu Stills Texten im Zusammenhang mit dem Begriff der Spiritualität, der in einigen Strömungen der modernen Osteopathie gerne immer wieder als besonderes Element der Osteopathie herausgestellt wird.
Aus der Biografie Stills ergibt sich eindeutig, dass er sich intensiv mit spirituellen Themen auseinandersetzte und selbst spirituelle Erfahrungen machte, die ihn maßgeblich geprägt haben. Still war durchaus der Meinung, dass spirituelle Aspekte für den Menschen von essenzieller Bedeutung sind. Es fällt allerdings auch auf, dass er seine Ansichten und vor allem seine Erfahrungen hierzu weitgehend aus seinen Abhandlungen und aus der osteopathischen Lehre ausklammerte. Lediglich der häufige Hinweis auf eine höhere und vollkommene Intelligenz als Quelle der selbstregulativen Lebenskraft im Menschen wird explizit ausgeführt. Aus seinen Schriften ergibt sich, dass er alle darüber hinausgehenden Überlegungen zur Spiritualität zumindest in seinen von ihm zur Veröffentlichung freigegebenen Texten bewusst zurückhält. Auch im Unterricht scheint er hiervon keine Ausnahme gemacht zu haben. Erfasst man den Gesamtkontext von Stills Gedankenwelt, wird auch rasch deutlich, dass für ihn der Zugang zur Osteopathie primär nicht über Spiritualität, sondern über Reflexion im philosophischen Sinn erfolgt. Spirituelle Aspekte genießen dabei eine radikale Intimität und sind somit im Bereich der öffentlichen Vermittlung der Osteopathie zu vermeiden, sei es nun in geschriebener oder gesprochener Form. Still wollte in diesem Punkt offensichtlich vermeiden, dass vom eigentlichen Wesen der Osteopathie als (Kunst-)Handwerk, Philosophie und Wissenschaft abgelenkt wird, da die ansonsten getroffenen Aussagen wissenschaftstheoretisch nicht beweisbar und nicht mehr überprüfbar wären und sich die Osteopathie dadurch der Fähigkeit zur gemeinschaftlichen Weiterentwicklung berauben würde.
Dieser Ansicht schließe ich mich an. Aus diesem Grund spielen spirituelle Aspekte in diesem Buch und auch im Projekt Philosophische Osteopathie keine vorrangige Rolle. Es geht um den kritischen und systematischen Austausch über Osteopathie. Dieser kann – und sollte auch – unerklärliche Bereiche erreichen, da es ja letztlich um die Erweiterung von Erkenntnis geht. Da es aber ein Anliegen des Projekts ist, subjektive Erfahrungen nicht vorschnell als objektive Wahrheiten zu deklarieren, sondern sie systematischzu ergründen, werden spirituelle Themen mit äußerster Vorsicht behandelt.
Nachdem nun im Vorwort und in der Einführung die Rahmenbedingungen für dieses Buch besprochen wurden, widmen wir uns nun endlich ausführlich den Schriften Andrew Taylor Stills im Hinblick auf ihre philosophischen Aspekte.
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