Stills philosophischer Ansatz wird im deutschsprachigen Bereich seit kurzem zumindest ansatzweise auf breiterer Ebene diskutiert.
1.3. ALLEINSTELLUNGSMERKMALE
Wie bereits im Vorwort erwähnt wurde, versucht das vorliegende Buch wesentliche Erkenntnisse in Bezug auf die philosophischen Aspekte in Stills Gedankenwelt zu erschließen. Hier stellt sich natürlich zunächst einmal die Frage, warum dies angesichts der eben beschriebenen dynamischen Entwicklung der Osteopathie überhaupt nötig ist. Wie zuvor schon dargelegt, lautet die Antwort: Weil die gegenwärtige Erfolgsgeschichte der Osteopathie darüber hinwegtäuscht, dass sie sich in einer ernsten Identitätskrise befindet. Entsprechend vielfältig gestalten sich die von den einzelnen Strömungen vorgebrachten Alleinstellungsmerkmale, die die Eigenständigkeit der Osteopathie belegen sollen. Da diese zumeist in bester Absicht formuliert wurden und daher ernst zu nehmen sind, möchte ich mich ihnen im folgenden Kapitel ausführlicher widmen.
DIE HAND ALS MEDIZINISCHES INSTRUMENT
Ein auffallendes Merkmal der Osteopathie ist die auch medizinhistorisch kaum bestreitbare Tatsache, dass Still mit seinem Ansatz die Hand erstmals als höchst feines diagnostisches und therapeutisches Werkzeug vor allem in Bezug auf anatomische Strukturen und im funktionellen Kontext innerhalb der Gesamtmedizin eingeführt und damit die moderne Palpation begründet hat. Das Grundprinzip , die Hand sowohl diagnostisch wie auch therapeutisch unmittelbar einzusetzen, findet sich allerdings bereits lange vor der Osteopathie. Man denke hier nur an das sogenannte Knochensetzen (Bonesetting), die Wundarzt-Chirurgie oder einige andere physikalische Verfahren, wie etwa die bereits im 19. Jahrhundert bekannte schwedische Massage. Auch dass die Hand über den strukturellen Aspekt hinaus ‚energetisch‘ eingesetzt wird, ist nicht wirklich neu. Das gleiche Grundprinzip findet sich auch im Mesmerismus/Magnetismus und bei vielen schamanischen Heilritualen. Was die Osteopathie hier vorweisen kann, ist eine bis dahin nicht gekannte Feinheit der strukturellen Palpation, die durch Sutherland auch um ‚energetische‘ Aspekte erweitert wurde. Da die Grundprinzipien aber schon weit vorher bekannt waren, scheidet dieses Argument als Alleinstellungsmerkmal der Osteopathie aus.
FUNKTIONELLES BEHANDELN
Immer wieder wird betont, dass die Osteopathie sich durch ihre besondere funktionelle Denkweise im Bereich anatomisch-physiologischer Zusammenhänge und eine entsprechend daraus resultierende, ebenfalls funktionell orientierte Behandlung auszeichne. Tatsächlich können hier die frühen auf Stills Grundideen basierenden Beiträge von J.M. Littlejohn, C. McConnell, H. Fryette und L. Burns für sich beanspruchen, medizinisches Neuland erforscht und zum Teil sogar eröffnet zu haben, was später vor allem von J. Denslow und I. Korr weitergeführt wurde. Im Kern geht es dabei um die bei Still zum ersten Mal formulierte Idee, dass der Status anatomischer Strukturen Einfluss auf die sich über die fließenden Körperflüssigkeiten entfaltenden physiologischen Prozesse im Körper ausüben und damit auch die Ausprägung von Krankheiten beeinflussen könnte. Ein bedeutender Forschungsbereich war bei allen dementsprechend das vegetative Nervensystem, v.a. jene Reflexbögen, die einen Einfluss auf die Gefäßversorgung des Körpers haben. Aus den daraus gewonnenen Erkenntnissen wurde abgeleitet, dass man nahezu alle im hausärztlichen Kontext auftretenden Beschwerden primär mit manuellen Techniken behandeln solle, um so über den Behandlungsapparat indirekt in das physiologische Geschehen des Organismus einzugreifen. Dadurch würden Beschwerden gelindert werden. Wie bereits beschrieben, liegt dem Begriff Osteopathie dieser Zusammenhang zugrunde.
Beim Blick in die Geschichte der Osteopathie muss aber kritisch festgestellt werden, dass dieser tatsächlich originäre Ansatz im Grunde nur in den ersten Jahren nach der Gründung von Stills American School of Osteopathy und in gebührender Konsequenz auch lediglich von Still selbst und möglicherweise auch von einigen seiner ersten Schüler praktiziert wurde. In der allgemeinmedizinischen Praxis verwenden in der Osteopathie ausgebildeten Ärzte bei der Behandlung hausärztlich relevanter Akuterkrankungen heutzutage aber nur noch äußerst selten manuelle Techniken. Wenn überhaupt, erfolgt dies ergänzend zu primär eingesetzten orthodoxen oder anderen komplementären oder alternativen Verfahren. Auch im nichtärztlichen Kontext sucht man vergeblich nach der oben beschriebenen therapeutischen Vorgehensweise. Hier beschränkt sich die primär manuelle osteopathische Behandlung von Patienten im Wesentlichen auf muskuloskelettale oder psychosomatische Beschwerden. Dies aber entspricht nicht der weit umfassenderen Ausrichtung der ursprünglichen Osteopathie, die sich eben auf nahezu alle hausärztlich relevanten Beschwerdebilder bezog.
Es ist also festzustellen, dass der tatsächlich originäre Ansatz von Still nicht mehr konsequent praktiziert wird und somit als mögliches Alleinstellungsmerkmal ebenfalls hinfällig ist.1
GANZHEITLICHKEIT
Weiterhin wird der ganzheitliche Ansatz schon seit Stills Zeiten als wesentliches Merkmal der Osteopathie herausgestellt. Man betont, dass der ganze Mensch und nicht die Krankheit behandelt werde. Der Blick in die Medizingeschichte zeigt aber schnell, dass der Mensch bereits in der antiken Medizin der Griechen als Kombination von Physischem und Metaphysischem betrachtet wurde. Dort tauchen bereits die Begriffe Psyche (Atem, Hauch) zur Beschreibung von Charakteristika eines Menschen – wie Emotion, Gemüt und mentalen Fähigkeiten – sowie Soma (Leib) zur Beschreibung seiner körperlichen Ausprägungen und einem Verständnis für die Wechselbeziehung zwischen diesen beiden Ebenen auf. Ausgrabungen in Epidauros belegen, dass die Griechen bereits vor über 2000 Jahren so etwas wie einen ‚Kurbetrieb‘ kannten, in dem der Mensch als Ganzes behandelt wurde. Von körperlichen Behandlungen, Sportarenen und Badekuren bis hin zu Schlafsälen zur Traumdeutung wurde dort alles geboten.
In der Neuzeit findet sich vor allem das sogenannte Geistheilen, der Mesmerismus bzw. das Magnetisieren, aber auch die bedeutenden Arbeiten des amerikanischen Psychologen und Philosophen William James (1842 - 1910), worin ganzheitliche Sichtweisen vertreten werden. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass vor allem die zuerst genannten Ansätze im Lebensumfeld Stills große Bedeutung hatten. So verwundert es nicht, wenn man erfährt, dass er sich selbst in einer bestimmten Phase seiner Entwicklung als ‚Magnetiseur‘ bezeichnete. Auch die aus dem Magnetisieren erwachsene moderne Hypnose versteht sich hier bereits als durchaus ganzheitlich. Dass die damals vorwiegend klassisch-physikalischen Erklärungsmodelle inzwischen durch quantentheoretische ersetzt wurden, ändert nichts an der Tatsache, dass ganzheitliche Überlegungen in der Medizin schon vor Stills Zeiten einen bedeutenden Platz eingenommen hatten.
GESUNDHEITSORIENTIERUNG BZW. SALUTOGENESE
Einige Strömungen der Osteopathie behaupten, die Besonderheit der Osteopathie läge darin, dass man gesundheitsorientiert bzw. salutogenetisch am Patienten arbeite, und ich muss gestehen, dass ich selbst an der Propagierung dieses Arguments mitgewirkt habe. Im Kern dieser Vorstellung steht der Gedanke, dass die eigentliche Heilung durch inhärente Kräfte der Natur innerhalb des menschlichen Organismus erfolge und dass die osteopathischen Maßnahmen auf eine Aktivierung bzw. Unterstützung selbiger abzielten. Inzwischen ist mir aber klar geworden, dass auch dieses Konzept so alt ist wie die rationale Medizin in der westlichen Welt. Schon in der wohl bedeutendsten Medizinschrift der Antike, dem Corpus Hippocraticum , wird bereits vor rund 2500 Jahren die zentrale Beobachtung beschrieben, dass die Natur in ihrer Entsprechung des menschlichen Organismus in der Lage sei, sich selbst zu helfen. Als die Römer die griechische Medizin mit ihrer Humoralpathologie übernahmen, fassten sie dies treffend in dem Ausspruch „Der Arzt behandelt, die Natur heilt!“ 2 zusammen. Diese Fähigkeit der Natur, deren Entdeckung man in der Osteopathie Still zuweilen fälschlicherweise zuschreibt, wurde bereits in der Antike als Vis medicatrix naturae beschrieben.3
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