Auch wenn dieser gesundheitsorientierte Ansatz in der universitären Medizin nicht gelehrt und daher kaum praktiziert wird, ändert dies nichts an der Tatsache, dass er aus medizinhistorischer Sicht bereits vor über 2000 Jahren in Griechenland und später auch in Italien bereits eine Blütezeit erlebte. Hier kann die Osteopathie sich allerdings zugutehalten, in ihrem Gründervater Still einen ähnlich bedeutenden Wiederbeleber dieser Lehre zu besitzen wie Samuel Hahnemann (1755 - 1843), den Begründer der Homöopathie. Im Unterschied zu Hahnemann geht Still allerdings nicht davon aus, dass die dem Körper innewohnenden Heilkräfte eigens aktiviert werden müssten, sondern ist der Ansicht, dass sie stets in vollem Umfang bereitstünden. Diese im Gegensatz zur Homöopathie stets voll aktiven Kräfte könnten allerdings durch unnatürliche Veränderungen der anatomischen Rahmenbedingungen (Stills Läsionen ) in ihrer Entfaltung behindert werden, was die Entstehung von Krankheiten erst ermögliche.
Jeder Ethnologe wird zudem anmerken, dass das Konzept einer sich im Sinne der Lebenserhaltung und -förderung selbst ordnenden Natur ebenfalls Bestandteil nicht nur zahlreicher schamanischer Ansätze ist, sondern sich auch in einigen klassischen Heilmethoden Asiens nachweisen lässt.
URSACHEN BEHANDELN, KEINE SYMPTOME
Immer wieder ist in der Außendarstellung der Osteopathie zu lesen, sie behandle im Gegensatz zur orthodoxen Medizin nicht nur Symptome, sondern die Ursachen. Trifft dies sicherlich in einigen Fällen zu, so ist eine derartige Pauschalaussage doch keinesfalls korrekt. Wie begründet Osteopathie bezogen auf ihre zuvor beschriebenen Grundüberlegungen beispielsweise die kausale Behandlung eines juvenilen Diabetes, einer Hashimoto-Thyreoiditis oder einer massiven Coxarthrose? Diese exemplarischen Beschwerden, die auf einen unwiederbringlichen Untergang von bestimmten Zellen zurückzuführen sind, können – jedenfalls nach dem heutigen, auch über die rein reduktionistische Medizin hinausreichenden Wissen – nicht kausal behandelt werden, auch nicht durch die Osteopathie.
Zudem muss bedacht werden, dass Still die Ursachen von Erkrankungen ausschließlich mit einer Beeinträchtigung des Fließens von Körperflüssigkeiten oder Nervenströmen identifizierte, wohingegen die moderne Medizin den Begriff der Ursache in einem anderen Kontext versteht. Hierbei können genetische, psychosoziale, histologische, toxikologische und viele weitere Bereiche miteinbezogen sein. Zwar geschieht dies in Ansätzen auch in bestimmten Strömungen der Osteopathie, von einer rational begründeten Kausal-Ausrichtung kann aber keine Rede sein. Vielmehr handelt es sich hierbei zumeist um eher persönliche Erklärungsmodelle, die sich einer kritischen Überprüfung entziehen. Ein Begriff, der anders als im üblichen medizinischen Kontext gebraucht wird, kann aber nicht als Argument zur Abgrenzung von der Medizin gebraucht werden, da keine Vergleichbarkeit der Inhalte gegeben ist.
PROZESSORIENTIERTES BEHANDELN
Ein relativ neues Argument der Osteopathie für ihre Eigenständigkeit gegenüber der orthodoxen Medizin ist die Aussage, dass Letztere konzeptorientiert vorgehe, wohingegen die Osteopathie prozesshaft operiere.
Auch in diesem Zusammenhang muss betont werden, dass das prozessorientierte Vorgehen in der orthodoxen Medizin keinesfalls unbekannt, sondern im Gegenteil sogar in wichtigen Bereichen Grundlage des Vorgehens ist. Man denke hier nur an die Intensivmedizin oder die Anästhesie, wo zwar grundsätzlich mit Konzepten gearbeitet wird, diese aber je nach Patientenreaktion prozesshaft angepasst oder verändert werden.
Und auch bei diesem Argument muss man kritisch anmerken, dass die konzeptuelle Anwendung innerhalb der Osteopathie im internationalen Kontext vor allem in den angelsächsischen Ländern, aber auch in weiten Bereichen der zentraleuropäischen Osteopathie überwiegt. Ausschließlich prozessorientierte Behandlungen, bei denen der Osteopath seine Konzepte im ständigen Dialog mit dem Patienten bzw. dessen Organismus anpasst, sind weitaus seltener anzutreffen.
FLIESSENDE KÖRPERFLÜSSIGKEITEN ALS GRUNDLAGE DER GESUNDHEIT
Wie bereits erwähnt, betrachtete Still die fließenden Körperflüssigkeiten und die Nervenströme als physikalisches Medium, über welche sich die physiologischen Selbstregulationsprozesse der Natur auf intelligente Art und Weise entfalten können. Jedenfalls ist diese Hypothese sehr deutlich aus seinen Schriften abzuleiten. In diesem Punkt muss man aus historischer Sicht anmerken, dass bereits Emanuel Swedenborg in seinem 1704 erschienenen Werk Economia regni animalis den Gedanken klar formuliert, dass fließende Körperflüssigkeiten (im physikalischen Sinn) die Grundlage des Erhalts von Gesundheit darstellen. Dieses Buch war zu Lebzeiten Stills im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten verfügbar. Still hatte nachweislich eine gewisse Affinität zum Spiritismus, der wiederum starke Anteile des sogenannten Swedenborgianismus enthielt. Weiterführende Informationen zu diesem Thema finden sie in David Fullers Osteopathie und Swedenborg . Still kann in diesem Zusammenhang allerdings zugutegehalten werden, dass er diese auf mechanistischen und systemischen Prinzipien basierenden Überlegungen erstmals konkret und ebenfalls auf physikalischer Ebene therapeutisch nutzbar machen konnte.
Wiederum muss aber auch hier kritisch angemerkt werden, dass die moderne Osteopathie im angelsächsischen Raum – aber auch im europäischen Verbreitungsgebiet – nur äußert selten diese Ansicht öffentlich vertritt.
QUANTENTHEORIE
Gelegentlich begegnet man dem Versuch, therapeutisch wirksame Phänomene innerhalb der Osteopathie mit quantentheoretischen Überlegungen zu begründen. Diese Versuche zeigen allerdings nicht selten die Schwäche, dass sie aus autodidaktischer Beschäftigung mit der Materie und nicht im Austausch mit Quantenphysikern entstanden sind und somit gelegentlich hochspekulativ sind. Eine kritische Überprüfung der getroffenen Aussagen durch wirklich bewanderte Gelehrte in dieser hochkomplexen Materie steht hier noch aus. Von einer wirklich wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Quantentheorie ist die Osteopathie jedenfalls noch ein gutes Stück entfernt. Besonders kritisch ist zu werten, dass auf den oftmals hochspekulativen Aussagen nicht selten bereits komplette Behandlungskonzepte aufgebaut werden und mit dem Argument der ‚persönlichen Erfahrung‘ als gesichert unterrichtet werden. Bisher ist jedenfalls kein ernsthaftes Bestreben festzustellen, die so erstellten Hypothesen einer seriösen Überprüfung durch Quantenphysiker zugänglich zu machen.
Abgesehen davon ist die Berücksichtigung quantentheoretischer Aspekte im medizinischen Bereich keinesfalls neu. Die gesamte moderne Elektronik und somit sämtlichen medizinischen Geräte basieren auf ihr. Auch interpersonelle Quantenphänomene sind schon sein langem Gegenstand der Betrachtung diverser paramedizinischer Strömungen.
ANERKENNUNG DER OSTEOPATHIE DURCH DIE WHO
Zuletzt sei noch jenes Argument erwähnt, das vor allem von Seiten der ärztlichen Osteopathie häufig zu hören ist. Hier wird behauptet, allein die Anerkennung der Osteopathie bei der WHO als klar definierter komplementärmedizinischer Ansatz begründe ihre Eigenständigkeit. Hierzu muss man aber zweierlei anmerken: Erstens bezieht sich die Anerkennung vorrangig auf die berufspolitische, nicht aber auf eine inhaltliche Ebene, und andererseits bedeutet komplementär nichts weiter, als dass die mit diesem Attribut versehenen Medizinansätze nicht an den medizinischen Hochschulen gelehrt werden. Auch deshalb ist mit diesem Argument keine inhaltliche Abgrenzung der Osteopathie zu begründen.
ZUSAMMENFASSUNG
Wie dargelegt wurde, existieren vor allem in Hinblick auf Stills ursprünglichen Ansatz einige Hinweise auf tatsächlich originäre Überlegungen. Als Alleinstellungsmerkmal für die heutige Osteopathie können sie aber nicht mehr gelten, da sie größtenteils nicht mehr konsequent oder nur fragmentarisch umgesetzt werden. Modernere Argumente halten allesamt einer medizinhistorischen Prüfung und dem kritischen Blick auch auf die Alltagswelt der Gesamtmedizin nicht stand. Hinzu kommt die Tatsache, dass die Heterogenität der Osteopathie eine nur teilweise und nicht selten unterschiedliche Darstellung der einzelnen Argumente zur Folge hat. Die bereits angesprochene, aber innerhalb der Osteopathie-Szene kaum ernstgenommene Identitätskrise verhindert zudem grundsätzlich eine einheitlich begründete Abgrenzung der Osteopathie.
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