„Jawohl, das war meine Frage. Wir hatten ein kleines … Zeitunglück. Alle Uhren sind stehen geblieben, und nun wissen wir einfach nicht mehr, wann wir haben. Ich hatte gehofft, Ihr könntet es uns vielleicht mitteilen.“
Ringsum blickte der Reiter in hoffnungsvoll glänzende Augen. „Nein“, brummte er indes, „nein, tut mir außerordentlich leid. Ich reise stets zeitlos.“
Sofort erschlafften die Muskeln der Umstehenden, und sämtliche Uhrlinge ließen synchron die Schultern hängen.
„Dafür …“, hob der Schneckenreiter wieder an.
„Ja?“ Sofort trat wieder rosiger Schimmer auf die Wangen des Fragenden.
„… will ich euch verraten, wer ich bin. Ein Fremder nämlich ganz gewiss nicht.“
„Oh, natürlich, wie unhöflich von mir. Nur zu.“
„Mein Name ist Seymour Schneckenreiter, und mir zur Seite steht wie stets Globoli, die schnellste Schnecke diesseits der Komischen Koboldhügel.“
Globoli schmatzte und wackelte erfreut mit den Augtakeln.
Oh, lieber Buhrgermeister der Stadt. Willy Bold, du wirst uns doch wohl nicht vergessen haben?“ Mit den Worten beugte der Schneckenreiter leicht den alten Rücken und lüpfte seine Zipfelmütze.
„Seymour, alter Freund?“, änderte sich die Tonlage des befrackten Uhrlings. Er nahm die beschlagene Brille von der Nase, wischte sie an der Latzhose sauber und setzte sie wieder auf. „Seymour Schneckenreiter, aber natürlich. Jetzt erkenne ich dich auch. Willkommen!“ Willy Bold eilte seiner Natur getreu wackelnd auf den Reiter zu und schloss ihn herzlich in die Arme. Am ganzen Leib zitternd trat er wieder zurück. Es tut uns aufrichtig leid, dir in diesen überaus schlechten Zeiten oder vielmehr Zeitlosigkeiten keinen gemesseneren Empfang bereiten zu können.“
Die drei schwarzbelatzten Uhrlinge beäugten die Neuankömmlinge mit Skepsis, Argwohn und nervösem Zucken des jeweils linken Augenlids. „Ge messen er Empfang, pah! Können ja momentan nicht mal die Uhrzeit messen“, murmelte der erste von Ihnen unüberhörbar.
„Jaja, das ist wahr, das große Uhrwerk steht seit … keiner kann mehr sagen wie lange schon still und mit ihm alle anderen in ganz Clockville. Unsere Lebensplanung ist hinüber, weil keiner mehr weiß, wann und somit wo er ist, geschweige denn sein sollte oder was er gerade tun müsste. Es ist schrecklich.“
„Das Ende“, wisperte eine der Uhrältesten. „Der Teig geht auf, die Flut rückt nahe.“ Ihre mysteriöse Prophezeiung verstanden die übrigen Uhrlinge wohl als Anstoß dafür, ins neue alte Muster zu verfallen. Ringsum schwoll der Lärmpegel wieder an. Es wurde gemotzt, gepöbelt und allem voran gepanikt.
„Wir sind jetzt schon im Rückstand“, schrie einer.
„Unaufholbar!“, stimmte der nächste ein.
„Was soll nur werden?“, fragte ein anderer.
„Der sekundiöse Ablauf ist gestört!“
„Vielleicht ist der Zeit selbst etwas zugestoßen“, jammerten alle durcheinander.
Der Schneckenreiter grübelte, wie er den Tumult bändigen und die verzweifelten Uhrlinge beschwichtigen konnte, da sauste ein Licht durch die Windungen seines alten Verstandes, und er begann sich an ein bestimmtes Ereignis zu erinnern, das sich womöglich als hilfreich erweisen mochte. Ein breites Lächeln spaltete seinen buschigen Bart wie ein Beil das Feuerholz. Keiner schien Notiz davon zu nehmen. Genauso wenig wie von dem Blitzen in seinen Augen. Keiner? Nun ja, mit Ausnahme eines kleinen Uhrlingsmädchens auf dem Arm einer korpulenten Fruhrling. Seinen großen Kulleraugen war nichts davon entgangen und es begann sofort am Ärmel seiner Mutter zu zupfen. Kaum hatte die Fruhrling ihren Griff um das Kind gelockert, hüpfte das Mädchen schon mit wippenden Flechtzöpfen vom Arm herab und rannte auf den Schneckenreiter zu.
Ohne ein Wort ergriff es seine runzelige Hand und führte ihn durch die Schneise in der Menge zum Uhrenkasten. Dort angekommen bat es den Reiter gestikulierend auf einem großen hölzernen Werkzeugkasten Platz zu nehmen.
„Seid alle ruhig!“, schrie das Mächen in die Menge, die von alledem wieder einmal nichts mitbekommen hatte und sich nun wunderte, von wo aus die helle Stimme ertönte, die keinen Widerspruch duldete. Von ihrem Buhrgermeister ganz gewiss nicht. Die Mutter der Kuhrling wusste es jedoch sofort und drehte sich um. „Guinee“, seufzte sie und konnte doch ein Lächeln nicht verbergen.
Ihrem Beispiel folgend, wandten sich auch alle anderen wieder der großen Uhr und damit dem Schneckenreiter und dem schwarzen Schopf an seiner Seite zu. Das Mädchen mit der Stupsnase und dem Fransenpony trat von einem Fuß auf den anderen, als es jeden Blick der Stadt auf sich ruhen sah. Es fasste sich ein Herz. „Ich habe gesehen, wie jener Herr Schneckenreiter eine Idee hatte und ich würde sie gern hören. Ich bin dafür, wir lassen ihn sprechen. Wer schließt sich mir an?“, stachelte Guinee die Menge an.
Verwirrte Blicke machten die Runde, und vereinzelt reckten sich Hände in die Höhe.
Davon bestärkt, fuhr sie fort. „Alle streiten sich, keiner kann sich beruhigen. Wir wissen nicht weiter, nicht einmal Raffnuss, Rufus und Rohfuß tun das.“ Damit deutete sie auf die drei Uhrmeister in den schwarzen Latzhosen, die das Uhrwerk vormals ausgiebig traktiert hatten.
„Nun ja … öhm“, murmelte Rohfuß, während die anderen beiden die Arme verschränkten.
„Was schadet es demnach ihm zuzuhören? Schlimmer kann es nicht werden“, schloss Guinee ihren Vortrag ab und wandte sich mit wehendem Pony dem Schneckenreiter zu. „Bitte erzählen Sie! Was schwebt Ihnen vor?“
Der Schneckenreiter holte tief Luft, was Globoli die Gelegenheit bot, das Mädchen eingehend zu mustern. Außer der kurzen Latzhose trug sie bestickte Strumpfhosen und Pluderbluse mit mechanischen Gerätschaften von A wie Aufzugkrone bis Z wie Zahnrad darauf. Aus ihren seitlich geflochtenen Zöpfen hatten sich passend zum Fransenpony einige Strähnen gelöst und fielen locker um ihre spitzen Ohren. Dann wurde Globolis Blick von den Schleifen, die den Rest des Geflochtenen zusammenhielten, angezogen und blieb prompt daran hängen. Na nu, das waren ja überhaupt keine Schleifen. Er blinzelte, rieb seine Tentakelaugen aneinander, fuhr sie soweit aus wie er konnte, ohne eine Tentakelzerrung zu riskieren, reckte sie noch ein wenig weiter vor und betrachtete die Schleifen , die keine waren, noch einmal genauer. Ja, in der Tat, da gab es kein Vertun. Schlafende aber davon nicht weniger lebendige Minifledermäuse umkrallten kopfüber hängend die Zopfenden des kleinen Mädchens. Die Rennschnecke schmatzte und konzentrierte sich wieder auf ihren Begleiter, der endlich genug Luft in seinen Lungen hatte, um erzählen zu können.
„Nun denn“, hob er an, „die Situation eurer Stadt erinnert mich an meine Zeit in den Landen Widewestwingtons.“
In Guinees Ohren klang die tiefe Stimme des Schneckenreiters wie sanftes Grollen, das sich tief aus dem Inneren schneebedeckter Gebirge erhob und sie wohlig frösteln ließ. Sie klang nach Abenteuer und roch nach Erfahrung. Abgestandener Erfahrung … obwohl das auch auf die Schnecke zurückzuführen sein konnte. Guinee kräuselte die Nase und schenkte dem Tier einen Seitenblick, während sie weiter den Worten des Reiters lauschte.
„Dort erzählte man sich bald, wann immer es zu Zwistigkeiten zwischen sich streitenden Geschwistrigkeiten kam, das Geheimnis hinter dem Schutz der Heimat, später dem sogenannten Heimatschutz.“
„Und was hat das mit uns zu tun?“, verlangte Raffnuss zu wissen.
Guinee stampfte mit einem ihrer Stiefel auf, der nicht unähnlich derer von Weihnachtswichteln schien. „Für gewöhnlich erfährt man das am Ende einer Geschichte, Raffnuss!“
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