Als nächstes klingelte das Telefon bei ABHORRENCE-Sänger Jukka Kolehmainen, der gerade mit Koivusaari zusammen Geburtstag feierte. Beide wurden am 11. April geboren, und die gemeinsame Party hat mittlerweile schon mehr als zwei Jahrzehnte Tradition. Am anderen Ende der Leitung war Lahtinen und sagte, Tomi solle so schnell wie möglich Matthew Jacobson in Pennsylvania anrufen, da Relapse mit einem Plattenvertrag winkte. „Matt hatte das ABHORRENCE-Demo gehört und wollte uns unter Vertrag nehmen“, so Koivusaari. „Die EP kam damals erst raus und sie dachten, die Band gäbe es noch. Ich sagte, dass wir uns leider aufgelöst hätten, und erwähnte, dass ich eine neue Band hatte – wären sie vielleicht an einem Deal mit dieser interessiert? Ich erinnere mich gar nicht mehr, ob die das AMORPHIS-Demo überhaupt jemals erhielten. Sie waren interessiert, wollten aber, dass wir auch Vulgar Necrolatry von ABHORRENCE aufnehmen, weil das die Nummer war, die sie gut fanden. Wir hatten nichts dagegen. Damit begann der Schriftverkehr.“
AMORPHIS hatte auch von einem zweiten damals neu gegründeten und später bedeutenden Metal-Label ein Angebot erhalten, nämlich Osmose aus Frankreich. Die Mitglieder hatten die Vertragspapiere sogar bereits unterschrieben, jedoch noch nicht zur Post gebracht. Der Anruf von Relapse kam am selben Tag, an dem Osmose noch einmal bei AMORPHIS Druck gemacht hatte, sie mögen doch bitte den unterschriebenen Vertrag zurücksenden.
„Ich weiß nicht mehr, aus welchem Grund wir uns für Relapse entschieden. Vielleicht, weil’s Amerikaner waren. Wir hatten bestimmt das Logo auf irgendeiner Single gesehen. Osmose bot ein komplettes Album an und Relapse eine Split-LP mit INCANTATION, die Split-Alternative sagte uns vielleicht etwas eher zu. Ich glaub’, ohne dieses Angebot wäre die Band damals ziemlich schnell eingeschlafen“, überlegt Koivusaari.
Holopainen erinnert sich, dass bei der Entscheidung auch eine Rolle spielte, dass Osmose erst wenige Tage zuvor ihre erste Platte veröffentlicht hatten – SAMAELS Worship Him (1991) – und ansonsten noch keine Referenzen bieten konnten. Ein Vertrag mit einem amerikanischen Plattenlabel war für eine finnische Death-Metal-Band etwas Unerhörtes, wo doch noch nicht einmal die einheimischen Firmen Interesse zeigten. Auch in anderen Genres waren ausländische Verträge eine Seltenheit. Musik aus Finnland war noch weit davon entfernt, ein Exportschlager zu werden.
„Als Grunge groß rauskam, wollte vom Metal plötzlich niemand mehr was wissen“, blickt Holopainen zurück. „Finnische Plattenfirmen nahmen eh keine Heavy-Bands unter Vertrag. Riku Pääkkönen gründete dann Spinefarm und brachte FUNEBRE und SENTENCED raus, aber die übrigen Labels gingen in völlig andere Richtungen. Wir hätten uns gar nicht vorstellen können, dass eine Band wie wir zu einer großen oder gar internationalen Firma geht. Partner suchte man sich im Underground. Ich hielt’s bestenfalls für möglich, dass irgendein neues Minilabel daran interessiert sein könnte, was von uns zu veröffentlichen.“
Die Band nahm Relapses Angebot über drei Alben an, ohne lange zu überlegen oder irgendetwas zu unterschreiben. Im Mai 1991, einen Monat nach dem ersten Telefonat, waren AMORPHIS wieder in Tolkkis TTT-Studio und nahmen drei Stücke auf: zwei vom Disment Of Soul -Demo sowie eine Coverversion von Vulgar Necrolatry , bei der ABHORRENCE-Solist Jukka Kolehmainen am Mikro stand. „Ich verwendete für die Aufnahmen Drumsticks aus Kohlefaser“, berichtet Rechberger. „Irgendwie brachte ich’s fertig, mit dem Finger an der Snare hängenzubleiben. Weiß nicht wie, aber es tat sauweh. Der Finger war sofort krass geschwollen und am nächsten Tag dunkelblau. Wahrscheinlich war irgendwie Dreck unter die Haut geraten. Tolkki war die ganze Zeit dran, ‚mit dem Finger machste nix mehr, der muss amputiert werden‘. Musste er natürlich nicht, aber der Fingernagel sieht heute noch seltsam aus. Da wächst so ein komischer Fortsatz.“
Die für die Split-LP aufgenommenen Stücke klangen sowohl vom Spiel als auch von der Produktion her besser als das Demo, gemessen an heutigen Standards jedoch weiterhin ziemlich ungeschliffen. Auch im Hinblick auf Kompositionen und Arrangements war die Band besser eingespielt, auch wenn von Meisterschaft noch keine Rede sein konnte.
Der nächste Stopp nach der Studiosession war ein Bandwettbewerb im Jugendzentrum von Herttoniemi. Wie üblich, hatte die Band vor dem Betreten der Bühne kräftig vorgeglüht. Die Jury bestand aus dem Musiker Aki Sirkesalo, der 2004 bei dem verheerenden Tsunami in Thailand umkam, dem Musiker-Politiker Kimmo Helistö, der auch seinerzeit ABHORRENCE beurteilt hatte, und der Musikreporterin Virve Valli, die sich schon Anfang der Achtziger als Mitgründerin von Rumba verdient gemacht hatte. Sirkesalo bezeichnete die Songs als langweilig und „undeutliche Matsche“. Helistö vermisste am brachialen Sound des Quartetts Klangfarben und Abwechslung. Am kritischsten und direktesten war Valli, der die Musik von AMORPHIS als introspektiver Brei ohne Zweck oder Zielgruppe erschien. Sie forderte die Band dazu auf, ihre Proben mitzuschneiden und sich die eigenen Songs acht Stunden lang in einem verdunkelten Raum anzuhören. Die Gruppe nahm das Feedback mit Humor – die gegen den Mainstream gerichtete Provokation war ganz offensichtlich geglückt.
Das frisch aufgenommene Tonband wurde an Relapse geschickt, doch von dem versprochenen Split-Album war plötzlich keine Rede mehr. Erneut schlich sich Frustration ein. Den Musikern kamen Zweifel, ob die Platte jemals erscheinen würde. Das Label veröffentlichte jedoch im Juni eine schlicht Amorphis betitelte Single mit zwei von den Stücken, die bei der Session aufgenommen wurden: Vulgar Necrolatry und Misery Path . Auf dem Cover prangte eine überarbeitete Version des „Batman-Logos“ auf schwarzem Grund. Schließlich verkündete Relapse, dass aus der Split-LP nichts würde, AMORPHIS jedoch stattdessen ein komplettes Album aufnehmen dürfe. Laut Holopainen scheiterte die Split-Veröffentlichung daran, dass sich der amerikanische Vertrieb Important geweigert hatte, die Scheibe ins Programm zu nehmen. Luxi Lahtinen bekam eine andere Story zu hören. „Ich interviewte Jahre später John McEntee, den Gitarristen und Sänger von INCANTATION“, berichtet er. „Als INCANTATION ihre Hälfte eingespielt hatten, hörten sie die Aufnahme von AMORPHIS und kamen zu dem Schluss, dass diese zu gut war, um zusammen mit ihrer eigenen zu erscheinen. Die INCANTATION-Stücke wären im Vergleich völlig untergegangen: AMORPHIS hatten die fetteren Sounds, die besseren Songs und die eingängigeren Riffs. Letztendlich kam es so, dass beide komplette Alben für Relapse aufnahmen.“
Während das Material für das Debütalbum allmählich Gestalt annahm, ließen sich AMORPHIS bei diversen Veranstaltungen sehen. Die größte davon war das Indoor-Festival Day of Darkness in der Sporthalle von Oulu am 23. 08. 1991 mit IMPALED NAZARENE, BEHERIT, DEMIGOD, BELIAL, BLACK CRUCIFIXION und SENTENCED. Im Nachhinein betrachtet, war dieses Line-Up schlichtweg legendär, aber die Tickets kosteten lächerliche 20 Finnmark – knapp über drei Euro.
„Oppu hatte vor dem Gig ein Mädel aufgetrieben, das sie nicht alle beisammen hatte. Sie wollte, dass wir sie fesseln und nach ihr treten. Wir wunderten uns nur. Dann versuchte sie irgendwas und Oppu brüllte halb im Ernst los, dass er vergewaltigt würde“, erinnert sich Koippari.
In der Sporthalle Oulu vor dem Auftritt beim Day of Darkness , 23. 08. 1991.
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