„Der Schaffner brüllte los und beschuldigte Koippari, das Bier absichtlich auf ihn geschüttet zu haben. Dann fing er an, mit dem Fahrkartenlesegerät auf Koippari einzuschlagen. Es kam zum Handgemenge und wir versuchten, den Schaffner loszureißen“, berichtet Holopainen. Im nächsten Bahnhof, dem knapp vier Kilometer entfernten Pasila, drängte der Schaffner gemeinsam mit einem Kollegen die ganze Truppe gewaltsam aus dem Zug. Koivusaaris Gitarre blieb im Kampfgetümmel auf der Gepäckablage zurück. „Tuukka von RYTMIHÄIRIÖ war aus Spaß mitgekommen, und der Kontrolleur haute auch ihm das Gerät über den Kopf“, erinnert sich Koivusaari. „Wir dachten, das kann nicht wahr sein: Der Schaffner hatte von sich aus nach mir gepackt, und nur deshalb spritzte das Bier auf ihn. Als die Beamten uns rausschmissen, hielt ich mich an der Tür fest und bat um meine Gitarre, aber sie traten einfach die Tür zu. Dann schmiss der eine die Gitarre in hohem Bogen aus der anderen Tür heraus. Der ganze Koffer ging zu Schrott. Ich rief umgehend bei der Bahngesellschaft an, sagte meinen Namen und berichtete den Vorfall. Sie fragten, ob ich wegen der Sache Anzeige erstatten wolle. Ich antworte, nicht unbedingt; wir könnten uns auch so einigen. Die Schaffner erfuhren dadurch meinen Namen und erstellten Strafanzeige gegen mich. Ich kam vor Gericht und musste Bußgeld zahlen. Ich versuchte, gemeinsam mit den Zeugen meinen Standpunkt darzulegen, wurde aber nicht beachtet, denn ‚darum geht es hier nicht‘. Im Endeffekt musste ich dem Schaffner die Reinigungskosten erstatten. Der saß im Gerichtssaal neben mir. Ich lachte ihn aus, er könne das doch wohl nicht ernst meinen. Er glotzte mich nur an. Die Reinigungskosten! Naja, viel war‘s zum Glück nicht.“
Die Jungs übernachteten bei Oppus Mutter im Nachbarstadtteil Vallila und gelangten schließlich mit dem Frühzug nach Joensuu. Als Promoter der Veranstaltung fungierte Heikki „Hege“ Hyvärinen, der einige Jahre später als Anführer der örtlichen Neonazis in Erscheinung trat. Zum Zeitpunkt des Geschehens war Hyvärinen ein dürrer Death-Metal-Fan mit Engelsgesicht und Bomberjacke; beim Organisieren des Gigs half seine Mutter. Als die Band eintraf, schlug Hyvärinen eifrig vor, erstmal einen trinken zu gehen. Er führte die Musiker auf ein Feld, in dessen Mitte ein Brunnendeckel prangte. Hyvärinen hob den Deckel. Im trockenen Brunnenschacht lehnte eine Leiter. „Was zum Teufel…?“ wunderte sich Oppu. „Nur zu!“, drängte Hyvärinen. Auf dem Boden des kochendheißen Schachtes standen Eimer, in denen Hochprozentiges vor sich hin gärte. Als Sitzbank diente ein Rohr. Der Promoter kredenzte die Eimer und kicherte: „Verdammt, hätte nie gedacht, dass ich mir mal mit Koivusaari von ABHORRENCE zusammen die Kante geben würde!“ Am Veranstaltungsort wurde die Alkoholvernichtung gemeinsam mit den Mitgliedern von XYSMA und anderen Bekannten fortgesetzt. Die Band absolvierte ihren Auftritt mit Ach und Krach. Hinterher wurde im Obergeschoss des Clubhauses gegessen, gefeiert und übernachtet. Die Mitglieder stopften gerade kalten Nudelauflauf in sich hinein, als ein örtlicher Prolet herbeischwankte und begann, sich aus derselben Schüssel zu bedienen „Hey, das Essen ist für die Bands!“ merkte XYSMA -Sänger Jani „Joãnitor“ Muurinen höflich an.
Anstatt ihm Gehör zu schenken, begann der Eindringling, den Anwesenden Prügel anzudrohen. Der bereits eingeschlafene Luxi Lahtinen erwachte von dem Lärm, als der Störenfried gerade ein Messer zog. Lahtinen – hochgewachsen, athletisch, aber von äußerst friedfertigem Naturell – verfolgte die Situation einen Moment lang, bis er plötzlich aufsprang und lospolterte: „Zum Donnerwetter noch mal!“ Womit er nicht nur den Streithals überraschte, sondern auch seine anwesenden Bekannten.
„Ich war stinksauer darüber, wie sich der Typ den Bands gegenüber verhielt“, erinnert sich Lahtinen. „Ich bin ziemlich groß und dachte mir, ich mach Schluss mit der Debatte und spiel mal kurz den Rausschmeißer. Ich hob den Kerl mit väterlichem Griff in die Luft, hielt ihn so fest, dass er mit seinem Messer nichts ausrichten konnte, und trug ihn die Treppe runter. Ich warf ihn in den Schnee, rief hinterher, dass er sich zur Hölle scheren solle, und machte die Tür zu. Ein etwas hitziger Adrenalinstoß für meine Verhältnisse, aber zum Glück war das Problem damit beseitigt.“
Die Heldentat des sanftmütigen Riesen wurde von den Musikern mit Respekt und Anerkennung bedacht. Wenig später, und ebenso unerwartet, sollte Lahtinen in der Geschichte von AMORPHIS eine noch wesentlich bedeutendere Rolle spielen.
6. DER VERTRAG MIT RELAPSE
ALS AMORPHIS AN den Start gingen, war Finnland gerade auf dem Weg in eine tiefe Wirtschaftskrise. Zwischen 1990 und 1993 stieg die Arbeitslosenquote von 3,5 % auf 18,9 %. Wie Dominosteine kippte ein Unternehmen nach dem anderen, mit dem Ende der Sowjetunion brach der Export ein, die Zinsen schossen in die Höhe und die Zukunft sah düster aus. Die anhaltende Depression prägte Stimmungslage, Politik und Kultur. Eine Krise durchlebte zeitgleich auch der Hardrock- und Metalmarkt. Übersättigt von dekadentem Glamrock und technischer Virtuosität, sehnte sich das zahlende Publikum nach Musik, die Gefühl bot statt Technik, Rotz statt Glamour und Alltag statt Fantasy.
Grunge kam wie gerufen. Der Stil, der von Seattle aus die Welt eroberte, verband Heavy-Gitarren mit der revolutionären Haltung des Punk. Abgerissene Klamotten waren in, Make-up und toupierte Haare out. NIRVANA, SOUNDGARDEN, ALICE IN CHAINS und STONE TEMPLE PILOTS verdrängten POISON, WARRANT, SKID ROW und MÖTLEY CRÜE. Jeans, Flanellhemden und simple Akkorde traten an die Stelle von technischer Brillanz, Pyrotechnik und Marshall-Stacks. Metal und Hardrock waren auf einmal altmodisch und weitab vom Scheinwerferlicht, und die wenigen, welche die darwinistische Selektion überlebten, änderten ihren Stil. Die „gefährlichste Rockband der Welt“ GUNS’N’ROSES polierte sich mit Backgroundsängerinnen, Orchester und überdimensionalen Bühnen- und Plattenproduktionen auf. METALLICA erging es wie den Haaren der Bandmitglieder: Image und Musik wurden auf salonfähig getrimmt. Unter Anleitung des Produzenten Bob Rock traten die verzerrten Gitarren in den Hintergrund, das Tempo wurde zurückgenommen, der Gesang wurde sauberer und mehrstimmig – und die Band zu Superstars.
Trotz der allgemeinen Talfahrt des Metal blühte die Death-Subkultur. Die Mitglieder von AMORPHIS verspürten jedoch zunehmend Frustration, weil es nicht so recht voranging. Die Volljährigkeit rückte näher und der Musikgeschmack wandelte sich. Der Sensenmann schien bereits seine Klinge zum letzten Streich zu erheben: Die Gruppe hatte seit zwei Monaten weder geprobt noch live gespielt und ihre Mitglieder sich auch in ihrer Freizeit kaum gesehen. Doch eines Tages klingelte das Telefon.
Luxi Lahtinen hatte die Angewohnheit, Bands, die er mochte, um 10-20 Demokassetten zu bitten, welche er dann auf eigene Kosten an Plattenfirmen und Radiostationen versendete. Zu seinen Kontakten zählte die kurz zuvor gegründete US-Firma Relapse, der er das ABHORRENCE-Demo Vulgar Necrolatry geschickt hatte. „Ich wohnte damals noch bei meinen Eltern“, berichtet er. „An einem Abend klingelte es ziemlich spät: Matt von Relapse war am Apparat und fragte nach Koipparis Telefonnummer. Er sagte, dass er ABHORRENCE unter Vertrag nehmen wollte. Kurz danach schellte es wieder und meine Eltern sagten, das ist schon wieder der Typ von der Plattenfirma. Er hatte versucht, bei Koippari anzurufen, aber da war niemand drangegangen. Ich sagte, der wäre wahrscheinlich mit Freunden unterwegs. Matt meinte nur, ‚okay, wir versuchen’s später nochmal.‘“
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