»Und, war es für Dich auch erotisch?«
»Grete!«
»Was?«
»Hat etwas gedauert, bis er sich rausgetraut hat«, sagte Gregor.
»Die sind eingelaufen«, sagte Grete.
Gregor drehte sich zu ihr um. »Wer?«
»Komm runter, Ossihauswart, und sieh es Dir an.«
»Mindestens zehn Zentimeter«, sagte Hanna.
Gregor stieg von der Leiter und sah kopfschüttelnd auf die Vorhänge mit Hochwasser.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Hanna.
»Nüscht«, sagte Grete. »Uns dran gewöhnen.«
»Sieht aber schon ein bißchen scheiße aus«, sagte Gregor.
Grete klappte das Bügeleisen zusammen. »Im nächsten Schaltjahr lasse ich den Saum raus. Oder besser, wenn Jakob Tilla gefunden hat, zur Feier des Tages.«
»Sehr witzig«, sagte Hanna.
»War nicht als Witz gemeint. Was glaubst Du, wird er finden, unser Geisterseher? Denn, daß er sie findet, darauf verwette ich meinen schrumpeligen Arsch. Ich nehme doch an, Du hast darüber nachgedacht, als Du ihn gebeten hast, daß er sie für sein Herzblatt sucht?«
»Ich will nur wissen, ob sie mich verlassen hat«, sagte Hanna. »Ob mich meine starke Mutter, der Mittelpunkt unserer Welt, einfach verlassen hat.«
Grete strich ihr über den Kopf. »Ach Kindchen. Und wenn, dann konnte sie nicht anders.«
Hanna sah Jakob an. »Genau das will ich wissen.«
Mathilde Albertine Jolante von Bredow, genannt Tilla, verlor alles, als sie vierzehn war. Der Geschützdonner rückte näher, der polnische Verwalter des elterlichen Gutes in Ostpreußen stand mit ruhelosem Blick neben dem gepackten Wagen und stieg von einem Bein auf das andere.
Sie hatten seit Monaten nichts von Tillas Vater oder ihren älteren Brüdern gehört. Tillas Mutter lief durch die Zimmer und jammerte, man solle ihr sagen, was zu tun sei. Der vollgestopfte Wagen stand mit laufendem Motor dampfend in der Kälte und Tilla entschied sich zur Flucht. Sie wußte nicht, was sie tat, hatte noch keinen Ort und niemanden verlassen und kannte nichts außer ihrer Heimat.
In der nahen Kreisstadt verloren sie ihr Auto an einen Offizier. Der Verwalter kaufte für einen unverschämten Preis ein Pferdefuhrwerk mit eiernden Rädern und einen schielenden steinalten Ackergaul dazu. Das Pferd war ihr Glück. Alle anderen Flüchtlinge verloren ihre, aber der knochige Alte ließ sabbernd den schaukelnden Kopf hängen, wenn schneidige Uniformierte sich ihm näherten. Und er ging nicht einen Schritt, es sei denn, der Verwalter nahm seine Zügel.
Das Pferd blieb ihnen bis zur Reichsgrenze. Dort sank es auf seine steifen Vorderbeine, schnaufte schwer und starb. Der Verwalter segnete Tilla mit polnischen Worten, verbeugte sich vor ihr und ging zurück in seine Heimat.
Sie waren allein bei minus dreißig Grad und sie gingen zu Fuß. Tilla kaufte für all ihre Wertsachen den Handkarren eines Bauern, lud die letzten Habseligkeiten darauf und gab ihn der immer noch jammernden Mutter an die Hand. Sie selbst schnürte sich die ihnen gebliebenen Lebensmittel vor die Brust, den kleinen Bruder auf den Rücken und hieß ihn, seine Arme um ihren Hals zu schlingen.
In der nächsten Nacht nahm ein Mann die Mutter.
In der folgenden verloren sie den kleinen Bruder an die Kälte.
Die Seele der Mutter starb auf dieser Flucht. Sie verlernte zu berühren und sich berühren zu lassen, begegnete den Rest ihres Lebens sich selbst und anderen mit harter, hilfloser Hand.
Drei Monate nach Kriegsende erfuhren sie in Berlin, daß auch die übrigen Söhne den Krieg nicht überlebt hatten. Als Tilla ihrer Mutter die Todesnachricht überbrachte, ging die mit einer Axt auf ihr nun einziges Kind los.
Der herbeigerufene Arzt zuckte wortlos die Schultern, gab eine Spritze und ging.
Tilla verbarg Axt, Messer und Streichhölzer vor der Mutter, schloß sie ein, wenn sie etwas zu essen organisieren mußte und hielt sie zurück, als sie sich am Apfelbaum erhängen wollte. Erst nachdem die Mutter eine Scheibe einschlug und der zurückkehrenden Tilla blutüberströmt mit einer Glasscherbe drohend gegenübertrat, brachte sie sie in eine Klinik.
Jeden Tag nach der Schule fuhr Tilla in die Psychiatrie und hoffte auf Besserung. Nach einem Jahr, in dem sich am Zustand der Gräfin nichts geändert hatte, ging Tilla zu einem Anwalt und fragte, wie sie ihren vermißten Vater für tot erklären könnte. Sie bekam Halbwaisenrente, machte Abitur und begann ein Biologiestudium. Im Sommer nach dem Vordiplom sah sie ihrer Mutter zum letzten Mal dabei zu, wie sie im Aufenthaltsraum sinnlose Gedichtzeilen auf Papierfetzen kritzelte. Am folgenden Morgen zwängte sich Gräfin von Bredow aus einer Dachluke und sprang der aufgehenden Sonne entgegen in den Tod.
Mathilde Albertine Jolante von Bredow, genannt Tilla, verlor ihre Eltern, ihre Geschwister und ihre Heimat, als sie vierzehn war. Und sie schwor sich, zu überleben.
Jakob sah dem Professor zu, wie er versuchte, sich mit dem Programm seines PCs auf eine Sprache zu einigen. Seine Stirn war konzentriert gefaltet, der Mund stand leicht offen.
Tillas früherer Kollege Professor Dr. Schmerkert war in Weiß gekleidet, als wäre er einer von Hannas Krankenhauskollegen. Ein Labormensch, sogar mit weißen Schuhen. Ohne Laborratten allerdings. Kein Getier weit und breit, keine Pflanzen. Jakob erinnerte sich an das gemütliche Bürostübchen des Biologen Werner im Botanischen Museum. Seine Sorgenpüppchen und die Webdecke aus Guatemala auf seinem Stuhl. Bei Professor Schmerkert würde Jakob nie auf die Idee kommen, seine Schuhe abzustreifen. Wie hatte die wilde ostpreußische Tilla hierher gepaßt? Weißer Kunststoff überall, sirrende Festplattenventilatoren, aseptisches Licht aus Neonröhren und Kabelgebirge unter den Tischen.
»Ich habʼs gleich«, sagte Schmerkert. Seine Nase krauste sich, er kniff die Augen zusammen. »Die Testreihe will nicht so wie wir.« Er hackte mit den Fingern auf der Tastatur herum. Jakob betrachtete sein ergrauendes Haar. Der Mauerfall und Tillas Verschwinden waren über zwanzig Jahre her.
Der Professor seufzte. »Das wird heute nichts mehr.« Er wies auf den PC. »Sie wollten etwas über Tilla wissen? Das ist keine Umgebung für sie, lassen Sie uns aufʼs Dach gehen.«
Sie stiegen eine Wendeltreppe hoch auf das Institutsdach. Schotter knirschte unter ihren Schuhen. Es gab eine Bank, dahinter versuchten einige Gräser und Pflanzen am extremen Standort zu überleben. Man sah immerhin den Himmel. »Hat Tilla hier gearbeitet?«, fragte Jakob.
»Schon, aber das sah damals alles ganz anders aus. Die Westberliner FU war eine verschnarchte linke Einrichtung. Wir Biologen haben der Dritten Welt unter die Arme gegriffen und alles zu retten versucht.«
Werner, dachte Jakob. »Und dann fiel die Mauer«, sagte er.
»Die Veränderungen begannen schon vorher durch die aufkommende Gentechnik. Die unsere Gräfin übrigens ablehnte. Sie hatte so eine romantische Ader in der Biologie.«
»Das heißt?«
»Sie hat gern ganz altmodisch Dinge gekreuzt.« Er lachte. »Nicht nur im Beruf. Haben Sie Ihre Töchter gesehen?«
»Ich kenne nur eine.«
»War damals Institutsgespräch, wenn Sie auf Empfängen mit ihrer Schar auftauchte. Regenbogenfamilie würde man heute sagen. Aber alles ihre.«
»Und bei der Arbeit?«
»Hat sie gemendelt. Träumte von irgendwelchen Urrassen, die man nur ausbuddeln müßte. Etwas arg rückwärtsgewandt. Der Flachs war so ein Ding. Hatte wohl mit Ostpreußen zu tun. War ihre Traumpflanze, unerschöpfliche Anwendungsmöglichkeiten. Haben später die Ökos aufgegriffen, vor dem Hanf. Diese knitternden Leinenhemden, das ist Flachs. Aber das war nach Tillas Verschwinden. Hat sie nicht mehr miterlebt.«
»Schade.«
»Ja, zumal sie darüber geforscht hat, wie man Flachs produktiv anbauen kann. Ist ziemlich empfindlich, das Zeug.«
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