»Ist das die, die ihre Kinder abgemurkst hat?«
Tanja biß herzhaft in den Apfel und nickte.
»Eine Gegend für stolze Frauen«, sagte Oskar.
»Überhaupt eine stolze Gegend«, sagte Tanja mit vollem Mund. »Und nicht mal grundlos. Sie haben eine eigene Sprache und ein eigenes Alphabet.«
»Für soʼn paar Figuren? Sagtest Du nicht, die haben so viele Einwohner wie Bayern?«
»Guram Geladse, Alikas Vater, war Chemiker an der Akademie der Wissenschaften in Tiflis. Dann kam Gorbatschow.«
»Die Sowjetunion verpuffte.«
»Nach der Unabhängigkeitserklärung ʼ91 ist er in die Politik. Der Nationalismus schoß über. Es gab Ausschreitungen gegen religiöse Minderheiten.«
»Was sind denn die Georgier, Moslems?«
»Christlich-orthodox, ist quasi Staatsreligion.«
»Und die Moslems kriegten aufs Dach?«
»Sie mußten alle Gotteshäuser an die christlich-orthodoxe Kirche übergeben. Und es gab Pogrome gegen Juden.«
»Typisch.«
»Alikas Mutter ist Jüdin. Deshalb hat Guram sie nach Berlin gebracht, über die Kontingentlösung.«
»War nicht der Schewardnadse Georgier? Den mochte ich. Hat viel für den Mauerfall und die Einheit getan. War so ein sensibler Melancholiker. Wenn so die Georgier sind …«
»Stalin war auch von da«, sagte Tanja. »Und Schewardnadse versank als nächster georgischer Präsident in der Korruption.«
Oskar stöhnte.
»2003 gab es die Rosenrevolution gegen Dein Sensibelchen.«
»Erfolgreich?«
»Guram ist mitmarschiert, direkt hinter Oppositionsführer Saakaschwili, der jetzt Präsident wurde und Guram zum Landwirtschaftsminister ernannte. Schien alles gut zu laufen, viele Georgier kamen aus der Fremde zurück.«
»Klingt nach einem Aber. Wieder Korruption?«
Tanja nickte. »2007 gabʼs die nächsten Massenproteste. Saakaschwili hat daraufhin, um von den inneren Problemen abzulenken, Russland provoziert.«
»Bewährte Methode.«
»Er ließ Oppositionelle auseinandertreiben und die Armee in der unabhängigen, von vielen russischstämmigen Georgiern bewohnten Region Südossetien einmarschieren.«
»Und die Russen haben gesagt, piß mich nichʼ an, Zwerg.«
»Unser Versöhner Guram hat Saakaschwili für den sinnlosen und verlorenen Krieg kritisiert, daraufhin wurde er kaltgestellt auf einem diplomatischen Posten in Armenien. Aber offensichtlich wußte er zu viel. Es gab zwei Attentate auf ihn. Beim zweiten verlor er seine linke Hand. Danach stieg er aus der Politik aus und ging in die Wirtschaft.«
»Kluge Entscheidung. Er wollte die rechte behalten.«
»Seit 2012 hat Georgien einen neuen Präsidenten und es geht bergauf.«
»Und das alles ohne den Vermittler Geladse.«
»Es mußte wohl jemand von außen kommen, der noch dazu so reich ist, daß Bestechung keine Rolle für ihn spielt. Jetzt gibt es eine freie, kritische Presse, Gesetze gegen Diskriminierung und die Justiz ist unabhängig.«
»Gurams Familie könnte zurückkehren.«
»Aber auf dem Land herrscht große Armut. Jeder zweite ist arbeitslos. Wäre Georgien nicht ein so fruchtbares Land, würden die Menschen hungern.«
»Viel aufzubauen. Und Guram ist in der Wirtschaft.«
»Soll ich mich um seine Arbeit von heute auch noch kümmern?«, fragte Tanja.
»Wir haben erst einmal genug zu tun mit der politischen Zeit. Was war mit den Attentaten?«
Tanja sah auf ihren Bildschirm. »Das erste war eine Schießerei in Tiflis vor der Akademie der Wissenschaften. Fünf Tote. Da wurden sogar Täter ermittelt. Angeblich war es Zufall, daß Guram gerade vor Ort war.«
»Ach ja.«
»Auch ihn hatte es schwer erwischt. Lag ein halbes Jahr im Krankenhaus. Er muß sehr willensstark sein, hat sich zurückgekämpft und war fortan für die Bevölkerung ein Held.«
»Und das zweite Attentat?«
»Er kommentierte von seinem diplomatischen Posten in Armenien Saakaschwilis Politik.«
»Das konnte der sich natürlich nicht gefallen lassen.«
»Zumal Guram weiter versuchte, seinem Land zu helfen. Brachte armenische Investoren nach Georgien, was auf dem Land Arbeitsplätze in der Landwirtschaft schuf. Er ist vom Land, vielleicht war er deshalb so engagiert. Aber den örtlichen Provinzfürsten gefiel das gar nicht. Sie hatten vorher schon alles untereinander aufgeteilt.«
»Logo.«
»Guram wurde noch beliebter und geriet auf der Rückfahrt vom Besuch eines georgischen Weinguts in einen Hinterhalt. Alle starben, auch die armenischen Investoren, bis auf ihn.«
»Wie hat er das geschafft?«
»Auf dem Weingut hatte man ihm als Dank für seine Arbeit eine schußsichere Weste geschenkt. Die Gastgeber bestanden darauf, daß er das Geschenk anprobiert.«
»Starke Schutzengel.«
»Seine linke Hand verlor er trotzdem. Und die Attentäter wurden nie gefaßt. Man vermutete einen bestochenen Bodyguard, zumindest wurde dessen Familie nach seinem Tod überraschend wohlhabend.«
»Und wo suchen wir Guram jetzt?«
»Bevor er verschwand, kam er aus dem Baltikum. Ist in Tegel gelandet und hat sogar in einem Berliner Hotel eingecheckt.«
»Nicht bei Alika?«
Tanja schüttelte den Kopf. »Er war Stammkunde. Das gleiche Zimmer wie immer, seit drei Tagen.«
»Das heißt, er hat Alika verschwiegen, daß er hier war?«
Tanja nickte. »Und er verschwand von Berlin aus.«
»Dann sollten wir mit den Kontakten seit seiner Ankunft anfangen. Hast Du die Telefondaten schon?«
»Von seinem georgischen Handy noch nicht. Aber er hat das Hoteltelefon benutzt. Für ein Gespräch mit der georgischen Botschaft.«
»Dann muß Focke sich um einen Termin beim Botschafter kümmern«, sagte Oskar.
»Noch was«, sagte Tanja, »die Familie des Bodyguards …«
»Der von dem zweiten Attentat? Mit dem gefüllten Konto?«
»Sie hat Georgien inzwischen verlassen.«
»Laß mich raten.«
»Sie leben in Charlottenburg. Luftlinie fünfhundert Meter vom Stuttgarter Platz.«
»Du mußt die Walnüsse aufspießen, so.«
Alika saß mit Levi in der geschlossenen Apotheke und zeigte ihrem Sohn, wie er Tschurtschchela herstellen konnte. Ihre Blicke streiften durch den vor sich hin dösenden Raum mit den hochgestellten Stühlen. Kaum etwas wies noch auf die überstandene russische Invasion hin. Sie hatte die Russen nicht angezeigt. Kaukasisches Betriebsrisiko, das war eingepreist. Und es war ja dank der Hilfe und Treue ihrer Gäste fast alles wie zuvor. Einer ihrer kasachischen Spüler hatte einen Schneidezahn verloren. Und das Gemälde, gegen das der Angreifer die Wodkaflasche mit Igors Spülwasser geworfen hatte, war zerstört. Aber Alika hatte noch nicht die Kraft gefunden, es abzuhängen. Vielleicht schützte es auch ihr Lokal, als eine georgische Gedächtniskirche. Sie sah in die kleine Nische mit der Heiligen Barbara und lächelte. Sie hatte die wundervollsten Gäste der Welt.
Levi hatte die Zunge seitlich herausgestreckt und gab sein Bestes, aber immer wieder brachen die Nüsse entzwei. Er schimpfte und versuchte es erneut. Alika sah auf seinen schwarzen Schopf, der sich konzentriert über die Arbeit beugte und hätte ihn vor Liebe zerquetschen können wie Levi die Nüsse.
Alika liebte diese stillen Stunden mit ihm. Aber sie war abgelenkt. In die Sorge um ihren Vater mischte sich eine neue Stimme. Die Stimme von Jakob, dem sonderbaren Polizisten. Seit er dabeigesessen hatte, als sie den Kommissaren ihren verschwundenen Vater erklärte, ging ihr sein Gesicht nicht mehr aus dem Sinn. Die eindringlichen Augen, diese tiefe Entspanntheit, die Offenheit, die Fragen, die er nicht aussprach. War sie verliebt? Wenn ja, war das die ungewöhnlichste Verliebtheit, die ihr jemals widerfahren war.
»Mama! »Levi war zornig. Er hielt ihr eine Reihe auf die Schnur gezogener Walnüsse entgegen und sie beachtete ihn nicht.
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