»Ich meine damit nicht, daß sie tot ist«, sagte er sanft. »Um sie suchen zu können, muß ich sie verstehen. Und das geht am besten, wenn Du in Deiner Kindheit anfängst. Wie war sie?«
Hanna lächelte. »Meine Mutter ist eine stolze, lebendige und sehr große Frau. Sie war Professorin an der FU und hat ganz allein sechs Mädchen großgezogen.«
»Also hat sie viel Energie?«
»Mehr als irgendjemand sonst.« Hanna polierte einen Löffel. »Ich weiß gar nicht, wie sie das alles geschafft hat. Wir Mädchen waren ein Hühnerhaufen. Alles war chaotisch, aber es war auch voller Leben und Liebe.«
»Ihre Kraft kommt aus Ostpreußen«, sagte Grete.
Jakob sah sie fragend an.
»Sie ist tief verwurzelt, das hat sie stark gemacht. Ostpreußen ist eine sehr mächtige Heimat«, sagte Grete. »Durch diese Herkunft wurde sie, wer sie ist. Nur wer seinen Mutterboden kennt, die Scholle, aus der er erwachsen ist, kann frei leben.«
Für Hanna waren ihre Mutter und die fünf älteren Schwestern dieser Mutterboden. Bevor sie Berlin als ihre ruppige und pralle Heimat eroberte, hielt die kleine Hanna die Welt für einen Frauenort. Überall Mädchenstimmen, alles plapperte, lachte, schrie, tanzte, sang, raufte miteinander, floh voreinander. Immer kochte irgendjemand, las den anderen etwas vor, schminkte eine Schwester, lackierte deren Nägel. Und über all dem thronte Tilla, machtvoll und stark, die wundervollste Mutter von ganz Berlin. Groß gewachsen und mager, mit lachenden blauen Augen und hohen Wangenknochen. Einer viel zu langen Nase und blondem, von der Sonne ausgebleichtem Haar. So wild, daß sie es immerzu mit Gummis bändigte. Bis sie es eines Tages kurz schnitt und springen ließ, wohin es wollte.
Tilla knisterte vor Lebensfreude und Tatkraft. Sie schien zwölf Hände zu haben, die in Töpfen rührten, über Köpfe strichen, Haare kämmten, Kinder fütterten. Sie blies auf gefüllte Kochlöffel und korrigierte nebenher Vokabeln. Ertrug die ihre dreibeinige Streifenmaus in der Küche spazieren führende Kleine genauso wie die pubertierenden Großen, die ihre Mutter abwechselnd wegstießen oder an ihrer Brust über böse Jungs schluchzten.
Im Flur hingen sechs Pinnwände mit den Terminen der Mädchen, darunter sechs Paar Schuhe wie Orgelpfeifen, dazwischen sechs Jacken an Haken. Sechs Stullenpakete, sechs Äpfel jeden Tag. Sechs Ranzen, sechs Mützen, zwölf Handschuhe.
»Sie war der Mittelpunkt einer Hummelhorde«, sagte Hanna. »Und außerdem noch Botanikprofessorin.«
»Und Euer Vater? Ist er gestorben?«
Grete brachte Hauswart Gregor den nächsten Vorhang und verschwand mit ihrem Bügeleisen in der Küche, um es im Backofen wieder aufzuwärmen.
»Jede von uns hat ihren eigenen Vater. Meine Mutter war eine gewollte Alleinerziehende.«
»Mochte sie keine Männer?«
Grete schlurfte wieder ins Eßzimmer. »Sie war scharf wie ein Rasiermesser.« Sie ließ sich auf einen Stuhl gegenüber Hanna fallen und zog eine Eieruhr auf. »Nur, damit das hier nicht zu idyllisch wird.«
»Willst Du weitererzählen?« Hannas Augenbrauen zogen zu.
Minenfeld dachte Jakob, als er von einer Frau zur anderen sah. Ein eingespieltes Team.
»Wenn Jakob sie richtig kennenlernen will, wäre das vielleicht besser.«
»Du hast sie immer beneidet.«
Kopf einziehen, Jakob.
»Geliebt habe ich sie«, sagte Grete, »wie sich das gehört als beste Freundin. Was mich aber nicht so blind für ihre Fehler gemacht hat wie ihr Nesthäkchen.« Sie strich Hanna über die Hand. »Tilla hat Männer begehrt. Aber als Familienmitglieder, gar als Haushaltsvorstand, hat sie nichts von ihnen gehalten.«
Krachend schoß der Vorhang von der Stange. »ʼtschuldigung«, sagte Gregor.
»Du bist natürlich die Ausnahme von der Regel«, sagte Grete lachend. »Gregor ist unser Mann für alles. Wenn Tilla ihn gekannt hätte, hätte sie ihn sofort geheiratet.«
Gregor war für einen Hauswart ein auffallend zarter Mann. Mit breiten Schultern allerdings und ausgearbeiteten Händen, die jetzt den Vorhang zurück auf die Stange schoben. Jakob dachte an seine Sterbezimmerschreibtischmuskulatur und gelobte Hanteltraining. Spätestens ab nächstem Monat. »Hat Tilla schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht?«, fragte er.
»Sie war Kriegskind«, sagte Grete. »Ihre Mutter verstand sich als Künstlerin, war völlig unpraktisch veranlagt, und ihr Vater war nie da, wenn sie ihn gebraucht hat. Das Gut in Ostpreußen mußte Tilla als Heranwachsende im Krieg zusammen mit einem Verwalter führen.«
»Ihr Vater war Soldat?«
»Ihre älteren Brüder. Papa hat sich um den Familienbesitz in Übersee gekümmert. Bis der Adolfspuk vorbei ist, hat er gesagt.«
»Und kam er zurück, als der Spuk seine Heimat verwüstet und Frau und Kinder vertrieben hatte?«
»Da hatte er schon unter zu viele Überseeröcke geschaut. Das sexuelle Vagabundieren liegt in der Familie.«
»Er war krank«, sagte Hanna scharf.
»Richtig, Malaria hat er vorgeschoben.«
»Und dann war er verschollen«, sagte Hanna.
»Liegt auch in der Familie.«
Hannas Augen fauchten.
Grete sah auf ihre Eieruhr und stand auf. »Ich halte dann mal lieber die Klappe, sonst muß ich mir auf meine sehr alten Tage noch eine neue Bleibe suchen.« Sie ging in die Küche.
Hanna schwieg, Jakob tastete sich voran. »Das heißt, Du kennst Deinen Vater gar nicht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Wir haben nichts vermißt.«
»Und Eure Väter haben nie versucht, Kontakt zu Euch aufzunehmen?«
»Sie wußten ja nichts von uns. Tilla hat sie auf ihren Auslandsreisen ausgesucht, um sich von ihnen schwängern zu lassen.«
»Eine sehr freie Frau.«
Grete kam zurück. Um die Rechte ein Handtuch gewickeln, blancierte sie das schwere Bügeleisen.
»Ihre Unabhängigkeit war für uns immer ein Vorbild«, sagte Hanna.
»Vorsicht Jakob«, sagte Grete, »jetzt wirdʼs für Dich gefährlich.«
»Sie hat sich nie in ihr Leben hineinreden lassen«, sagte Hanna. »Außer von Ihrer besten Freundin.«
Grete drückte das Bügeleisen auf den nächsten Vorhang. »War auch öfter nötig«, sagte sie mit rauher Stimme.
»Genaugenommen war Grete überhaupt die Einzige, auf die sie gehört hat.«
»Außer, wenn es um Männer ging.«
»Also weißt Du auch nichts …«, Jakob zögerte.
»Über ihre Liebhaber?« Grete grinste. »Erzählt hat sie viel. Alles eigentlich.« Sie nahm den Wasserzerstäuber und sprühte mit Schwung den Vorhang ein. »Aber nicht, wer sie waren, das war ihr ehernes Gesetz.«
»Und als sie verschwand? Hatte sie da gerade jemanden?«
»Sicher«, sagte Grete. »Sie konnte nie lange ohne. Außerdem war das kurz nach Mauerfall, in einer sehr erotischen Zeit.«
Jakob erinnerte sich. Es hatte geknistert, rund um die Uhr. Wer damals nachts schlief, war kein Berliner. Auch er war Mädchen im Vorübergehen begegnet. Die Zeit hatte stillgestanden. Sie lebten alle in einem Vakuum und warteten, daß irgendwann der Alltag zurückkehrte. Fremde Frauen, fremde Gerüche, eine andere Sprache, ein anderes Berlin. Er seufzte.
»Na, Kommissarchen?« Grete gackerte.
Jakob zog sich schweren Herzens aus der Erinnerung. »Ihr wart hier, am 9. November ʼ89?«
Beide Frauen nickten. »Meine Schwestern waren ja deutlich älter und schon Jahre zuvor in alle Welt ausgeflogen«, sagte Hanna.
Grete sah zu Gregor. »Und Du, schweigsamer Hauswart?«
»Auch in Berlin«, sagte Gregor und stieg von der Leiter, um Grete den nächsten Vorhang abzunehmen. »Allerdings kam ich von der anderen Seite der Mauer.«
»Du bist Ossi?«, fragte Hanna.
»Hätte ich jetzt nicht gedacht«, sagte Grete. »Wieso haben wir nie darüber gesprochen?«
Gregor stieg mit dem Vorhang auf die Leiter, seine starken Schultern spannten sich. »Ist lang her.«
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