Obwohl mein Patenonkel nicht ganz vom Bier ablassen kann, trinkt er jetzt nicht mehr so viel wie früher. Nachdem er schwer erkrankt war, musste er eine Abmagerungskur machen und sieht heute wieder besser aus. Er ist nicht mehr so apathisch wie früher, aber ich muss trotzdem noch jedes Mal schmunzeln, wenn er mit fast geschlossenen Augen und mit den über dem Leib gekreuzten Händen auf dem Sofa thront und so aussieht, als ob er eingeschlafen sei. Nur dann und wann öffnet er ein wenig die Augen und gibt sein seufzendes „Ach, mein lieber Gott!“ von sich.
Onkel Johann ist für mich eine tragikomische Figur. Obwohl er eine kaufmännische Lehre absolvierte, gelang es ihm nie, sich dazu zu entschließen, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Selbst als der Papa anfing, bei Hannes Timm zu arbeiten und ihm seitdem immer wieder vorhielt, dass es auch für ihn notwendig sei, seinen Unterhalt zu verdienen, machte er keinerlei Anstalten, sich um eine Stellung zu bemühen. So liegt er nach wie vor der Familie auf der Tasche. Heiko wird jedes Mal wütend, wenn dieses Thema aufkommt. Abgesehen davon bin ich sehr glücklich darüber, dass der Papa und die Mama sich jetzt mit dem Deichkater gut verstehen, was ja beileibe nicht immer so war.
Als wir dann endlich nach Hause fuhren, war Heiko entspannt und ausgelassen. Er pfiff fröhlich vor sich hin. Ich war über seinen Frohsinn sehr verwundert. Unser ernstes Problem ist doch noch keineswegs gelöst. Als ich ihn darauf ansprach, sagte er lächelnd: „Machen Sie sich nur keine Sorgen mehr, Prinzessin, der böse Drachen ist schon so gut wie besiegt!“ Was hat er bloß wieder vor? Ich hoffe nur, dass es das Richtige ist.
Ich freue mich schon riesig auf den zweiten Weihnachtstag. Die ganze Bande wieder beisammen! Heiko rief heute Morgen vom Büro aus an und sagte mir, dass der Klumpfuß (ich muss mir endlich abgewöhnen, den Josef so zu nennen!), also dass Josef, nach eindringlichem Zureden schließlich eingewilligt hat, auch dabei zu sein. Ich bin so froh, dass wir uns alle nach so langer Zeit wieder treffen werden!
Ach, liebes Tagebuch, wie gern möchte ich Dir all die vielen Gedanken anvertrauen, die mir in diesem Augenblick durch den Kopf gehen. Leider kann dies für uns alle gefährlich werden, jetzt mehr denn je. Aber Du verstehst mich, nicht wahr?
„Frau Keller!“ Silkes Ruf kommt von der Diele.
Clarissa legt den Füller nieder und schließt eilig das Tagebuch. Sie geht rasch an die Tür.
„Was ist los, Silke?“
„Hier ist ein Junge, den ich nicht kenne. Er sagt, er möchte Sie sprechen. Seinen Namen will er aber nicht nennen.“
Clarissa geht einige Schritte vor. Als sie sieht, von wem da die Rede ist, sagt sie, indem sie ihre Aufregung zu verbergen sucht: „Ach, du bist es! Junge, bist du aber gewachsen! Es ist schon gut, Silke, es ist einer meiner früheren Schüler. Komm bitte herein, am besten gleich hier in mein Arbeitszimmer.“
Clarissa hält einem etwa zwölfjährigen, blassen und mageren Jungen in kurzen Hosen die Tür auf. Verängstigt knetet er mit beiden Händen seine Schiebermütze. Er geht an Clarissa vorbei und diese schließt die Tür, nachdem sie sich durch einen schnellen Blick in die Diele vergewissert hat, dass Silke wieder in der Küche verschwunden ist.
„Moses Kovacs, bin ich richtig?“, flüstert sie leise, während sie ihn neugierig mustert.
Der Junge schaut sie mit seinen dunklen Augen an und nickt wortlos. „Fräulein von St..., entschuldigen Sie, Frau Keller“, stammelt er verlegen.
„Wie hast du mich überhaupt gefunden?“
„Ich habe im Telefonbuch Ihren früheren Namen gesucht und die Nummer, die dort angegeben ist, angerufen. Ihre Mutter hat mir gesagt, dass Sie jetzt Keller heißen und hier wohnen. Da bin ich einfach hergekommen.“
„Und was führt dich zu mir, Moses?“, fragt Clarissa beklommen. Sie ahnt, dass der Junge all dies nur wegen einer bitteren Not auf sich genommen hat.
„Frau Keller, entschuldigen Sie bitte, dass ich zu Ihnen gekommen bin, aber ich wusste wirklich nicht mehr, was ich jetzt tun soll!“, entfährt es Moses. Eine Träne entweicht einem seiner Augen und kullert über die inzwischen von Erregung errötete Wange.
„Ist ja gut, Moses, beruhige dich. Setz dich erst einmal. Willst du etwas zu trinken haben?“
Nachdem der Junge den Kopf geschüttelt hat und sich beide gesetzt haben, fragt Clarissa: „So, und jetzt erzählst du mir in aller Ruhe, was dich bedrückt. Du brauchst vor mir keine Angst zu haben, das weißt du doch?“
„Ja, Frau Keller. Sie sind der einzige Mensch, zu dem ich noch Vertrauen habe. Deswegen bin ich ja zu Ihnen gekommen.“ Er macht eine Pause.
„Also gut, was ist los?“ Clarissas Stimme klingt weich und freundlich, um dem Jungen die Angst zu nehmen.
„Der Rektor hat mich gestern aus der Schule geworfen! Weil ich doch Jude bin!“
Die Inbrunst, mit der diese Klage an Clarissa herangetragen wird, erschüttert sie mehr als die Tatsache selbst. Sie hält einen Moment inne, um sich die richtigen Worte zurechtzulegen.
„Ja, Moses, ich weiß. Es ist sehr schlimm und auch sehr ungerecht. Aber so, wie die Dinge heute stehen, ist es kaum möglich, etwas dagegen zu tun. Haben deine Eltern nicht mit dir darüber gesprochen? Hast du von den neuen Gesetzen gegen die Juden gehört?“
Moses nickt. „Ja. Mein Vater und meine Mutter sind ganz verzweifelt. Wir wissen nicht mehr, was wir machen sollen. Die Mutter sitzt nur noch zu Hause und weint den ganzen Tag. Vater ist Schuster und hat Arbeit beim Schuhmachermeister Lorenzen. Der Meister ist sehr gut zu ihm, aber seine Frau, die Ulrike, die hackt in der letzten Zeit immer auf Vater herum. Er hat neulich gehört, wie sich die beiden seinetwegen in der Küche gestritten haben. Sie hat gesagt: ‚Wenn du den Jud’ nicht bald auf die Straße setzt, werden die Leute nicht mehr bei uns kaufen!‘ Ach, Frau Keller, ich bin so unglücklich. Was soll nur aus uns werden? Warum machen die das mit uns? Was haben wir ihnen nur getan, dass sie uns so hassen?“
„Moses, ich kann sehr gut nachfühlen, wie dir zumute sein muss. Ich kann dir aber auch nur sagen, dass es mir sehr leidtut. Die heutige Lage ist schwierig, auch für uns! Es fällt mir nicht gerade leicht, einem zwölfjährigen Jungen etwas derart Kompliziertes zu erklären. Weißt du, die meisten Erwachsenen können es auch nicht verstehen, das kannst du mir glauben.“
Clarissa macht eine Denkpause. Danach fährt sie fort:
„Vielleicht kann ich es dir so verständlich machen: Es gibt gute und böse, starke und schwache Menschen. Ist die Mehrzahl der guten Menschen stark, dann ist alles in Ordnung. Sind dagegen die Bösen stark und in der Überzahl, hingegen die Guten zu schwach, um sich deren Machenschaften zu widersetzen, dann machen die Bösen mit den Guten, was sie wollen und es kommt zu solchen Situationen, wie wir sie jetzt erleben.“
Moses sieht Clarissa mit einem Ausdruck an, der ihr verrät, dass der Junge sichtlich enttäuscht ist. Er hat doch Hilfe von ihr erwartet. Sie hat ihm bisher nichts anderes gegeben als Worte.
Clarissa fühlt Hilflosigkeit. Was soll sie, was kann sie für ihn tun? „Nun, Moses, in diesem Moment kann ich dir wirklich nicht genau sagen, was für euch das Beste ist. Haben deine Eltern schon mal darüber nachgedacht auszuwandern? In ein anderes Land zu gehen?“
„Ja, ich habe zwei oder drei Mal gehört, wie sie darüber sprachen. Mehr weiß ich nicht. Ich will aber nicht von hier weg! Warum auch? Hier habe ich doch alle meine Fr...“ An diesem Punkt unterbricht Moses den Satz. Bittere Tränen kullern jetzt aus seinen Augen. Zutiefst gedemütigt muss er an die gestrige Szene denken, als er unter den lauten Rufen seiner Klassenkameraden („Ohne Jud’ ist sehr gut! Jud’ ans Messer ist noch besser!“) vom Rektor aus der Schule geworfen wurde. Er hat in seiner Erinnerung aber auch die Gesichter derjenigen drei Freunde festgehalten, die nicht mitgeschrien, sondern nur traurig geguckt haben. Ja, Frau Keller hat schon recht: die wenigen, schwachen Guten.
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