1 ...7 8 9 11 12 13 ...17 Clarissa ist entsetzt. „Papa, das ist ja schrecklich! Was sollen wir nur tun? Ich weiß einfach nicht weiter. Ich habe solche Angst um Heiko. Er ist sowieso schon sehr wütend über dieses verwünschte Reichsbürgergesetz. Wie soll er nur die Herkunft seines Vaters nachweisen? Und jetzt werden wir auch noch im eigenen Haus bespitzelt. Was soll bloß aus uns werden?“
„Nun beruhige dich erst einmal, mein Kind. Nur keine Panik. Mit Angst im Herzen kann das Gehirn nicht kühl denken.“ Aber in seinem Inneren muss sich auch Hans-Peter eingestehen, dass er vollkommen ratlos ist.
In diesem Moment klingelt es wieder an der Haustür. Clarissa blickt verdutzt auf die Standuhr. Wie auf Befehl schlägt diese halb vier. Wer kann das sein? Um diese Zeit?
Clarissa springt auf und eilt an die Haustür. Die zwei weiblichen Umrisse auf den Glasscheiben sind ihr nicht geläufig. Oder doch?
Als sich die Tür öffnet, sehen sich die drei Frauen für einen Augenblick erstaunt und zunächst wortlos an. Dann fallen sie sich in die Arme.
„Gesche und Gesine. Welche Überraschung! Wie schön, euch nach so langer Zeit wiederzusehen! Kommt herein, kommt herein, der Papa ist auch gerade da.“
Während die beiden Besucherinnen ihre Mäntel ablegen, blickt Clarissa die Treppe hoch und sieht die oben stehende Silke, die gerade die kleine Elisabeth im Arm hält.
„Silke, bringen Sie bitte die Kinder herunter und machen Sie doch für meine beiden Freundinnen noch etwas Tee! – Kommt herein, ihr Lieben, kommt herein!“
Gesine und Gesche folgen Clarissa und sehen sich anerkennend im Hause um. Auch sie haben in ihrer Kindheit zusammen mit Heiko und Clarissa Onkel Suhl hier besucht und mit seinem sagenumwobenen Teleskop den Mond beobachten dürfen. Sie sind von den baulichen Veränderungen sehr angetan.
Im Wohnzimmer erhebt sich Hans-Peter und begrüßt herzlich die Sandkastenkameradinnen seiner Tochter, wie er sie scherzhaft nennt. „Wie schön, euch nach so langer Zeit wieder zu Gesicht zu bekommen, Gesche und Gesine. Wie geht es denn eurer lieben Frau Mutter?“
„Danke, Herr von Steinberg“, antwortet Gesine, „leider nicht so gut. Sie leidet sehr unter ihrem Rheuma und kann sich kaum noch bewegen.“
„Ja, ja, wir werden eben alle nicht jünger. Das Alter verlangt uns seinen Zoll ab.“
Hans-Peter denkt eine Weile nach, während sich die drei jungen Frauen angeregt unterhalten, um sich gegenseitig auf den derzeitigen Stand zu bringen. Dann sagt er, mitten hinein in eine Redepause: „Ich glaube mich erinnern zu können, dass gerade das Bürgerwehrfest stattfand – es muss im Februar 1931 gewesen sein –, als wir uns das letzte Mal sahen. Da haben wir alle gemeinsam im Herrenhaus gefeiert. Tja, damals lebte Onkel Suhl noch.“ Plötzlich verstummt er. Ihm fällt ein, dass er doch später noch bei Gesches Hochzeit im Uhlenhof zu Gast war. Dann blickt er betreten auf die schwarz gekleidete Gesche und schweigt. „Ssssie wwwwwaren dddddoch noch bbbei uuuuns-unserer Hoch...“
„Hochzeit, Herr von Steinberg“, eilt Gesine ihrer Schwester zu Hilfe.
„Ach ja, natürlich, ihr habt ja recht, das hatte ich tatsächlich total vergessen. Da seht ihr, wie das bei uns Alten ist. Bei eurer Mutter ist es das Rheuma, bei mir das Gedächtnis“, scherzt Hans-Peter erleichtert.
Durch die offene Tür kommt eine kleine Prozession herein: Angeführt von Oliver folgt Silke, die vorsichtig mit einer Hand einen Teewagen schiebt, während sie auf dem anderen Arm Elisabeth trägt.
Clarissa eilt dem Hausmädchen zu Hilfe. Sie nimmt ihm Elisabeth ab, sodass Silke den beiden Schwestern den Tee servieren kann. Oliver bemächtigt sich sofort des Schoßes seines Großvaters und kichert vergnügt, während er an dessen Schnurrbart zupft. Hans-Peter lässt ihn fröhlich gewähren, während er wie ein aufgebrachter Dackel grunzt und bellt. Oliver kann sich vor Lachen kaum auf dem Schoß halten, sodass ihn der Großvater vor dem Herunterfallen bewahren muss.
„Oliver, benimm dich! So darfst du doch nicht mit deinem Großpapa umspringen!“, versucht Clarissa lächelnd zu zürnen.
„Ach, lass ihn doch, Clarissa“, lacht der Papa belustigt. „Er ist so herzerfrischend!“
Ein Schatten fährt über Clarissas Gesicht. Wie recht du hast, lieber Papa, denkt sie. Wir haben in diesen Zeiten doch wirklich nicht viel, über das man lachen könnte. Unbewusst drückt sie ihr Baby fester an sich.
„Ddddarf ich ddddas Bb...?“ Gesches feuchte Augen blicken Clarissa bettelnd an.
„Aber natürlich, Gesche. Hier, Lissy, jetzt darfst du zur Tante Gesche auf den Arm.“
Hans-Peter erhebt sich von seinem Sessel und stellt Oliver vorsichtig auf die Füße. „So, junger Mann, und nun muss dein Großvater wieder nach Hause, denn sonst macht sich deine Großmama Sorgen um ihn.“ Freundlich schüttelt er Gesche und Gesine die Hände. „Meine herzlichsten Grüße und Wünsche zur raschen Genesung an Ihre Frau Mama.“ Mit einem Blick auf Clarissa ergänzt er: „Liebes, begleitest du mich noch an die Tür?“
„Aber selbstverständlich, Papa. – Ihr entschuldigt mich bitte einen Augenblick?“
Gesche und Gesine nickten.
Während Clarissa in der Diele dem Papa in den Mantel hilft, sagt dieser: „Schade, wir konnten unsere Unterhaltung nicht zu Ende führen. Es wäre aber sehr wichtig, darüber ausführlich zu sprechen. Komm doch mit Heiko heute Abend zu uns zum Tee. Sagen wir, so gegen neun Uhr, ja? Dann sind wir ungestört.“
„Sehr gut, Papa, ich rufe gleich Heiko im Büro an, damit er heute nicht allzu spät nach Hause kommt. Also, gegen neun bei euch! – Grüß mir herzlich die Mama!“, ruft sie ihrem Vater hinterher, der sich auf der Straße nochmals umdreht und mit einer übertriebenen Geste sowie einem Lächeln auf den Lippen den Hut sehr tief vor seiner Tochter zieht.
Ebenfalls lächelnd kehrt Clarissa zurück zu ihren Besucherinnen. Silke geht mit den beiden Kindern in das obere Stockwerk.
„Ddddddein Pppppappa ssssieht abbbber ss...“, stottert Gesche.
Gesine beendet ihren Satz: „Ja, dein Papa sieht sehr gut aus.“ Nach einer Pause fügt sie hinzu: „Weißt du, Clarissa, irgendwie habe ich mir früher immer vorgestellt, dass Hans-Peter von Steinberg auch mein Papa ist, weil ja unser Vater sehr früh gestorben ist und wir ihn nie richtig kennengelernt haben. Und da wir in unserer Kindheit fast ständig zusammen waren und uns öfter in eurem als in unserem Hause aufhielten, habe ich ihn immer als eine väterliche Figur betrachtet. Es ist eigenartig, vor einigen Tagen sprachen Gesche und ich davon. Sie hat es mir nie vorher gesagt, aber sie empfand dasselbe, stimmt’s, Gesche?“
Gesche nickt eifrig.
Clarissa ist von dieser Offenbarung ihrer Freundinnen sehr gerührt.
„Ja, sie waren wirklich schön, die Jahre unserer Kindheit. Sehr oft muss ich daran denken – an Heiko, natürlich auch an euch, an den Klumpfuß und an Rollo und Heide.“
„Hast du etwas von den anderen gehört?“, fragt Gesine. Wir leben ja so abgeschieden, dass wir kaum Kontakt mit der Außenwelt haben.“
„Nun ja, dass mein Deichkater – ich nenne ihn immer noch so, ihr braucht gar nicht so zu grinsen – beim Klumpfuß – ich meine, bei Josef Rembowski – in der Backwarenfabrik arbeitet, das wisst ihr sicher noch, oder?“
Die Zwillinge nicken.
„Kurz nachdem der alte Tadeusz Rembowski starb, hat Josef Heiko zum gleichberechtigten Geschäftsführer gemacht. Es ist kaum zu glauben, aber die beiden verstehen sich sehr gut. Obwohl ich ihn aus alter Gewohnheit immer noch ‚Klumpfuß‘ nenne – natürlich nur, wenn er es nicht hört –, muss ich zugeben, dass Josef in der letzten Zeit sehr viel selbstbewusster geworden ist und ihn sein krummer Fuß anscheinend nicht mehr deprimiert, wie wir es von früher kennen. Jedenfalls versucht er nicht mehr, den Fuß zu verbergen. Ich freue mich sehr für ihn. Heiko hat mir erzählt, dass Josef sich verliebt haben soll. Er kämpft jetzt mit sich selbst, um den Mut aufzubringen, sich seiner Erwählten zu erklären. Der Arme!“
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