1 ...8 9 10 12 13 14 ...17 „Wwwwer ist es dddddenn?“
„Ich weiß es leider nicht. Angeblich jemand aus der Umgebung Oldenmoors.“
„Iiiiich ggglaubbbbe, ich wwwee...“
„Was, Gesche, du weißt, wer es ist? Wieso? Erzähl schon!“ Gesine bedrängt derart ungeduldig ihre Schwester, dass diese vor Aufregung kaum noch ein Wort hervorbringen kann.
Dann erzählt Gesche mit Hilfe von Gesines Ergänzungen, dass sie von ihrem Hausmädchen erfahren habe, dass vor einiger Zeit häufiger ein hinkender Herr bei Frauke Eggers, Tochter des Gutsherrn, auf dem Holstenhof zu Besuch gewesen sei. Allerdings sei der alte Knut Eggers über diese Besuche nicht sehr erbaut gewesen und es habe deswegen einen ernsten Krach zwischen Vater und Tochter gegeben. Seitdem hätten auch keine Hausbesuche dieses Herrn auf dem Hof mehr stattgefunden. Gelegentlich ließe sich Frauke Eggers durch den Gutsverwalter, Olaf Lütjens, ausfahren. Man vermutet, dass sie den hinkenden Herrn irgendwo heimlich trifft.
Nachdem diese prickelnde Romanze von den drei Freundinnen bis ins Einzelne kolportiert und kommentiert worden ist, fragt Gesine: „Ist Rollo immer noch bei der Reichswehr? Und hast du etwas von Heide gehört?“
„Ja! Roland Claaßen ist jetzt Obergefreiter und immer noch bei seinem Infanterie-Regiment 46 in Neumünster. Aber den Rest der Geschichte, den werdet ihr mir bestimmt nicht glauben!“ Clarissa macht eine Pause, um die Spannung zu erhöhen.
„Eerzzzzz...“, beginnt Gesche aufgeregt und Gesine vervollständigt: „Nun sag schon, Clarissa. Was ist denn mit Heide?“
„Also gut. Wie ihr wisst, war Heide sehr krank und lebte unter äußerst ärmlichen Bedingungen mit ihren beiden Kindern im ‚Jammertal‘. Heiko und ich haben sie damals dort besucht und wir dachten, dass sie sterben würde, weil es ihr so schlecht ging. Als Heiko Onkel Suhls Vermögen erbte, ließ er Heide sofort nach Aukrug ins Sanatorium bringen. Die beiden Jungs wurden zunächst auch dort untergebracht, und zwar im Kinderheim. Man päppelte sie auf, weil sie vollkommen unterernährt waren. Heide blieb fast achtzehn Monate im Sanatorium und konnte danach erfreulicherweise vollständig geheilt entlassen werden.“
„Oh, dddasss iiissst abbbber wwwunddderbbbbar ...!“ Eine Träne rollt aus Gesches Auge.
„Da die Kinder nach Neumünster zur Schule mussten“, fährt Clarissa fort, „besorgte ihnen Rollo dort eine Pflegestelle. Er hat sich während der ganzen Zeit sehr intensiv um die beiden gekümmert. Als Heide entlassen wurde, stellten sie und Rollo überrascht fest, dass sie sich sehr mochten, und haben dann, nach einigen Monaten, kurz entschlossen geheiratet! Sie leben dort in einer kleinen Wohnung und sind gesund und zufrieden.“
„Wie schön für die beiden“, sagt Gesine, ebenfalls sichtlich bewegt.
„Nnnnnein, ffffür ddddie vvvvvvier!“, meint Gesche.
„Natürlich, Gesche, wie recht du hast. Rollo hat nämlich die beiden Jungen adoptiert. Heide schrieb mir vor etwa zwei Wochen. Sie wollen uns am zweiten Weihnachtstag besuchen. – Oh! Ich glaube, ich habe eine gute Idee: Was haltet ihr davon, wenn wir uns alle, die ganze Bande, am zweiten Weihnachtstag hier treffen?“
Mit glänzenden Augen wird Clarissas Vorschlag von den beiden Schwestern begeistert aufgenommen.
„Wie herrlich!“, seufzt Gesine. „Ich freue mich schon jetzt riesig darauf!“
„Und wie ist es euch in der letzten Zeit ergangen? Wir haben uns ja sehr lange nicht mehr gesehen“, sagt Clarissa nach einer kurzen Pause.
„Ssssag nnnur allllles, ddddu wwwweißt ...“, spricht Gesche ihre Schwester an.
„Nun, Clarissa, du weißt ja, unter welch tragischen Umständen Siegfried, Gesches Mann, ums Leben kam. Seit seinem Tode leben wir sehr zurückgezogen auf dem Uhlenhof. Die Mama hat einen Verwalter, Herrn Siemsen, eingestellt. Er kümmert sich um die gesamte Landwirtschaft. Zurzeit haben wir große Sorgen, dass die in der Marsch sich rasch verbreitende Maul- und Klauenseuche auch auf unseren Viehbestand übergreifen könnte. Das wäre sehr schlimm. Bei Eggers sollen auch schon einige Tiere erkrankt und notgeschlachtet worden sein. Es ist so schrecklich!“
„Ja, es ist wirklich schlimm! Letzte Woche las ich es im Courier.“ Bei der Erwähnung der Lokalzeitung befallen Clarissa plötzlich wieder düstere Gedanken und sie verfällt in Schweigen.
Nach einigen Augenblicken bricht Gesine die Stille, die lediglich durch das Ticken der Standuhr untermalt worden ist. „Ich habe es damals sehr bedauert, dass Heiko und Siegfried nicht miteinander auskamen. Es ist so schade, dass wir uns deswegen auseinandergelebt haben.“
„Ja, auch mir tat es furchtbar leid“, antwortet Clarissa. „Aber ihr kennt ja Heiko gut genug. Er hat nun einmal seine feste Meinung und es ist sehr schwer, ihn davon abzubringen. Ihre Grundeinstellungen waren zu konträr. Es war vielleicht auch besser so, es hätte sonst nur Streitereien gegeben.“ Clarissa seufzt.
„Wie kommt er denn jetzt zurecht? Mit der heutigen Lage, meine ich.“
„Ach, er vertieft sich in seine Arbeit. Damit hat er den Kopf voll genug. Er arbeitet von früh bis spät und kommt abends todmüde nach Hause. Trotzdem sind wir als Paar und mit unseren Kindern sehr glücklich!“
Gesche und Gesine blicken sich gegenseitig an.
„Wwwwir mmm...“, beginnt Gesche und Gesine vervollständigt den Satz: „... müssen jetzt wieder nach Hause. Herr Siemsen wartet sicher schon mit dem Automobil auf dem Marktplatz.“
Die drei jungen Frauen erheben sich und gehen gemeinsam zur Garderobe in der Diele.
„Also abgemacht? Ihr kommt am zweiten Weihnachtstag zum Mittagessen und bleibt dann bis zum Abend bei uns. Die anderen lade ich auch ein. Sagen wir, um halb eins, ja?“ „Vielen Dank, Clarissa, wir freuen uns schon bannig auf dieses Wiedersehen.“
Als Clarissa die Haustür öffnet, weht draußen ein kräftiger, eiskalter Wind. Liebevoll umarmt Clarissa ihre beiden Sandkastenfreundinnen und steht noch so lange in der Tür, bis sie mit einem letzten Winken um die Straßenecke verschwinden.
Nachdem sie die Haustür geschlossen hat, geht sie in Heikos Arbeitszimmer und lässt sich von der Dame im Telefonamt mit Heikos Büro in der Backwarenfabrik verbinden.
„Deichkater?“
„Hallo Prinzessin. Was gibt’s Neues?“
„Der Papa war vorhin hier. Wir müssen etwas sehr Wichtiges besprechen. Kommst du bitte heute mal früher nach Hause? Wir sollen nach dem Abendessen ins Herrenhaus zum Tee kommen. Bitte, Heiko“, fleht sie ihn an, „es ist sehr wichtig, verstehst du?“
„Was hast du denn, Liebes, was ist los?“ Heiko ist beunruhigt, als er die Eindringlichkeit in Clarissas Stimme wahrnimmt.
„Ach, mach dir nur keine Sorgen. Aber bitte, bitte, komm bald.“
„Gut, mein Schatz, ich verspreche es. Ich erledige hier noch rasch etwas sehr Wichtiges und komme dann sofort. Zufrieden?“
„Ja, Deichkater, ich liebe dich!“ Clarissa hängt auf. Sie verlässt, sehr nachdenklich auf das Bücherregal blickend, Heikos Arbeitszimmer und schließt die Tür. Danach geht sie in Elisabeths Zimmer, wo Silke gerade dabei ist, dem Baby die Windeln zu wechseln.
In diesem Jahr stellen sich die Herbststürme recht früh ein. Als Heiko den Hörer auf die Gabel zurücklegt, blickt er bedrückt aus dem Fenster hinaus. Am grauen Himmel jagen große, schwarze Wolken einander hinterher. Der heftige Sturm, der mit Orkanstärke über der Nordsee tobt, fegt unbarmherzig über das Land und ertränkt es mit sintflutartigem Regen. Weite Flächen der tiefer gelegenen Marschländereien stehen gänzlich unter Wasser. Draußen herrscht eine dramatisch wirkende Dunkelheit. Wie beim Weltuntergang, denkt Heiko und dreht am Schalter seiner Schreibtischlampe. Wie in der Hexenszene von Macbeth, ja, genau so dunkel und unheimlich ist es.
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