Heiko ist alarmiert wegen des soeben mit Clarissa geführten Gesprächs. Warum war sie nur derart erregt? Ihre Stimme hatte etwas Eigenartiges, ja, einen fast an Verzweiflung grenzenden Unterton. Von dieser Sorge erfüllt, blickt Heiko auf die Pläne des neuen Backofens mit Seitenfeuerung, den man in Kürze in der Fabrik installieren will und mit dessen Auftragsvergabe er sich gerade beschäftigen wollte, als Clarissa anrief. Er blickt auf die Zeichnungen, ohne sie wahrzunehmen.
Es hat heute keinen Sinn mehr, denkt er. Ich kann mich nicht konzentrieren. Ich höre jetzt auf und gehe nach Hause. Dieser Anruf lässt mir keine Ruhe.
„Fräulein Matthiessen?“
„Ja, Herr Keller?“
Heikos Sekretärin, eine große, stattliche Fünfzigerin mit im Dutt streng zusammengebundenen Haaren, erscheint in der Tür.
„Ich muss jetzt weg. Wissen Sie, wo Herr Rembowski ist?“
„Soviel ich weiß, hatte er für heute ein Gespräch beim Orts-Handwerksführer auf dem Terminkalender.“
Verdammt!, denkt Heiko. Da hätte wohl lieber ich hingehen oder ihn wenigstens begleiten sollen. Warum hat er mir nichts davon gesagt?
„Also gut. Wenn Sie ihn noch sehen sollten, dann richten Sie ihm bitte aus, dass ich heute etwas früher gegangen bin und den Wagen mitgenommen habe. Haben Sie sonst noch etwas für mich?“
„Nein, Herr Keller. Nur Ihre Termine für morgen.“
„Gut. Vielen Dank, die können bis morgen früh warten. Ich habe es jetzt eilig. Dann noch einen schönen Abend.“
„Guten Abend, Herr Keller.“ Fräulein Matthiessen verlässt den Raum.
Heiko geht an den Wandschrank, entnimmt Regenmantel und Hut, schaltet die Tischlampe aus und verlässt das Büro. Er eilt die Treppe hinunter und gelangt durch eine Hintertür auf den Hof der Backwarenfabrik. Es regnet in Strömen, und obwohl er den Hof rennend überquert, ist er völlig durchnässt, als er in der ehemaligen Stallung eintrifft, wo nun die Lastwagen untergestellt werden.
„Dat is ja hüüt een Schietwetter, Chef“, begrüßt ihn Hinnerck Reimers, der in einen schwarzen Gummiumhang gehüllt ist.
Heiko kennt Hinnerck seit seiner Kindheit, als dessen Vater und er noch fahrende Gemüsehändler waren und das Herrenhaus der von Steinbergs täglich mit „Grointüch“ aus der Karre belieferten. Vor zwei Jahren war Hinnerck in finanzielle Schwierigkeiten geraten und musste sein Geschäft aufgeben. Als die Backwarenfabrik per Inserat im Courier einen Verantwortlichen für den Fuhrpark suchte – der neben den beiden Geschäftslimousinen mittlerweile aus drei größeren Last- und zwei Kastenwagen bestand –, hatte er sich beworben und die Stelle erhalten.
„Jo, mien Hinnerck, so is dat!“, stimmt Heiko ihm zu und schüttelt das Wasser von der Kleidung ab. „Föhrst man dien Laster een beeten to de Siet, ick wull mit mien Wogn rutföhrn.“
„Geiht klor, Chef! Ick wull noch mit di wat beschnacken, ick hef da so ’n Idee hat!“
Heiko nickt seinem Fuhrparkmeister freundlich zu. „Gut, Hinnerck. Kum mol moin to mi int Kontor.“
Nachdem Hinnerck den Lastwagen zur Seite gefahren hat, steigt Heiko rasch in den Opel Kapitän, lässt den Motor an und rollt langsam, zunächst über den Fabrikhof und danach durch das Tor, auf die Straße. Es regnet derart heftig, dass die Scheibenwischer es nicht schaffen, die Wassermassen beiseitezudrängen und ein klares Blickfeld zu hinterlassen. Heiko schleicht deshalb sehr behutsam durch die überfluteten Straßen, bis er vor seiner Haustür angelangt ist.
In diesem Augenblick scheint der Regen etwas nachzulassen, sodass Heiko mit dem Schlüssel in der Hand schnell über den Gehweg eilt und in das Haus gelangt.
„Clarissa, Liebes, ich bin da!“, ruft er freudig, indem er sich des nassen Hutes und des triefenden Regenmantels entledigt.
Clarissa stürmt geradezu die Treppe hinunter und fällt ihrem Mann in die offenen Arme. „Ach, mein Deichkater, ich bin ja so froh, dass du schon ...!“
Ihre letzten Worte werden von dem Kuss erstickt, den ihr Heiko auf die Lippen drückt.
„Warum bist du nur derart aufgebracht, mein Schatz? Was hast du denn?“ Heiko sieht sie fragend an.
„Ach, es ist nicht so schlimm, jetzt, wo du wieder bei mir bist. Wir können uns später über das kleine Problem unterhalten. Komm jetzt. Wir wollen erst einmal zu Abend essen.“
„Haben die Kinder schon gegessen?“, fragt Heiko, immer noch verunsichert.
„Ja, Silke bringt sie gerade ins Bett.“
„Dann will ich ihnen vorher noch kurz einen Gutenachtkuss geben. Ich komme gleich wieder.“
Eilig nimmt er auf der Treppe immer zwei Stufen auf einmal und geht zunächst in Elisabeths Zimmer. „Guten Abend, Silke. Na, was macht denn mein kleines Prinzesschen?“
„Guten Abend, Herr Keller.“ Silke überreicht Lissy ihrem Vater, der sie liebevoll in seine Arme schließt.
„Na, du kleines Wurzelweiblein, wie geht es dir?“ Spielerisch drückt er den Zeigefinger auf das Bäuchlein des Kindes, das vergnügt lacht und ihn anstrahlt. Mit einem Mal hebt Heiko das Baby hoch und dreht es rasch in der Luft herum. „Sieh dir nur die kleine fliegende Ente an!“, ruft er belustigt, während Lissy vor Vergnügen laut kreischt. Heiko hört mit dem Herumtoben auf, als er sieht, dass Clarissa lachend in der Tür steht. Er nimmt Elisabeth wieder auf den Arm und bringt sie zu ihrer Mutter, die ihr einen Kuss auf die Stirn drückt. Danach kriegt sie auch noch einen fetten Schmatzer von ihrem Papa, der sie sanft in das Kinderbettchen legt und ihr ins Ohr flüstert: „Schlaf gut, kleines Prinzesschen. Der Papa und die Mama gehen heute Abend noch aus. Wir sind aber morgen früh, wenn du aufwachst, wieder bei dir, mein Kleines!“
Clarissa und Heiko gehen ins Nebenzimmer, zu Oliver, der bereits sehnsüchtig wartend und mit ausgestreckten Armen am Gitter seines Bettes steht. Der Junge strahlt vor Freude, als seine Eltern in der Tür erscheinen, und strampelt ungeduldig mit den Beinchen.
„Na, mein Herr Sohn, was hast du heute wieder angestellt?“, fragt Heiko mit vorgespielter Strenge.
Oliver lacht freudig seinen Vater an, der ihn aus dem Bette hebt. Nachdem Heiko ihn für einen Augenblick gehalten und ihm über das blonde, gelockte Haar gestreichelt hat, kriegt er von der Mama und vom Papa je einen lieben Gutenachtkuss und wird wieder in sein Bett gebracht und zugedeckt.
„So, Oliver, schlaf recht schön. Wir besuchen noch den Großpapa, aber morgen früh sind wir beide wieder bei dir.“ Während sie die Treppe heruntergehen, fragt Clarissa: „Warum erzählst du den Kindern, dass wir weggehen wollen? Sie verstehen es doch noch gar nicht.“
„Ach, Clarissa, ich hatte als Kind immer Angst, wenn meine Großmama abends wegging und ich im alten Reetdachhaus allein bleiben musste.“
„Was, der große Deichkater hatte auch Angst?“, fragt Clarissa ungläubig.
„Ja, sogar panische Angst! Meistens waren sie ja alle weg, auch deines Vaters Brüder. Onkel Ewald, um seine Drogenabhängigkeit zu befriedigen, und Onkel Johann, um seinen Bierdurst in der Kneipe zu stillen. Das alte Reetdachhaus war für mich voller Gespenster und ich habe mich oft davor gegrault. Jetzt musst du lachen, nicht wahr? Natürlich, als ich dann etwas älter wurde, zwang ich mich dazu, keine Angst mehr zu empfinden.“
„Und ich habe immer geglaubt, dass der Deichkater mutig und furchtlos auf die Welt gekommen sei!“, witzelt Clarissa und lächelt Heiko an.
„Weißt du, Prinzessin? Mutig sein heißt keineswegs, sich nicht zu fürchten. Mutig ist man vielmehr erst dann, wenn man imstande ist, die Angst, die einen befällt, zu überwinden.“
„Um auf deine Frage zurückzukommen“, sagt Heiko, nachdem die beiden am Esstisch Platz genommen haben, „ich glaube fest daran, dass es immer ratsam ist, den Kindern stets ehrlich alles zu sagen, ohne sie – und auch nicht im Spaß – irgendwie zu hintergehen. Das Schönste, das uns die Kinder schenken können, ist ihr volles Vertrauen. Deswegen haben wir nicht das Recht, es auch nur im Geringsten zu missbrauchen.“
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