1 ...8 9 10 12 13 14 ...20 Freiheit, Unabhängigkeit, war von unermesslichem Wert. Gar nicht zu reden von der Beziehung zwischen den beiden Ländern, die inzwischen sehr der von zwei streitenden Geschwistern ähnelte. Immer öfter gerieten sie aneinander. Und im Laufe des letzten Jahrzehnts waren Hessenbergs wirtschaftliche Schwierigkeiten zu einem greifbaren Problem für Brighton geworden.
Sie konnten es sich nicht länger leisten, Hessenberg weiter finanziell auszuhelfen. Aber die Bedingungen des Erblehens waren eisern. Erbe oder Provinz.
„Ich kann mir nicht vorstellen, wie es gewesen sein muss, König Nathaniel I. zu sein oder Prinz Franz … Eine Vereinbarung auszuhandeln, während der Krieg sich immer deutlicher abzeichnete, mit den königlichen Cousins ein diplomatisches Tänzchen über Europa zu tanzen … mit dem Kaiser, König George V., Zar Nicolas II.“ Jonathan blätterte durch die Kopie des Erblehens. „Russland knickt ein, Deutschland droht, die südlichen und nördlichen Häfen Hessenbergs sind Angriffen ungeschützt ausgeliefert.“
„Welche Wahl hat sich Franz denn gelassen? Er hatte Hessenbergs Vermögen und Ressourcen verprasst mit seinem Lebenswandel und gleichzeitig versucht, mit seinen wilden Erfindungen den industriellen Fortschritt zu bringen. Dieses Auto, das er da gebaut hat, Starfire 89, das war wirklich nur etwas für Könige. Für die normalen Leute völlig unbezahlbar.“
„Jetzt ist der Wagen Millionen wert … wenn dann mal einer zu kaufen ist.“
Jonathan klappte die Dokumentenmappe zu und legte sie wieder auf den Schreibtisch. „Diese ganze Sache wird nicht gerade einfacher dadurch, dass Franz möglicherweise gar nicht lesen konnte.“ Er sah auf seine Uhr. „Liam wollte den Wagen vorfahren. Bist du so weit?“
„Ja, ja, lass uns fahren.“ Nathaniel klopfte seine Jacke ab. Wo hatte er seine Notizen eben hingesteckt? Ah, in seiner Brusttasche. „Ich beneide sie nicht gerade darum, im Schatten des Krieges eine Vereinbarung zu entwerfen. Noch dazu eine, die die Aufgabe von Land, Autorität und allen Rechten auf den Thron von Hessenberg verlangte, um die Brightons Souveränität zu gewährleisten.“
„Dann sei dankbar dafür, dass du das Ende der Vereinbarung vor dir hast und nicht den Anfang.“
„Das Ende tröstet mich nun auch nicht gerade.“ Nathaniel legte die Hand auf den Stapel aus Dokumenten und Tagebüchern, als er am Schreibtisch vorbeiging. „Ich dachte, meine größte Aufgabe sei es, die wahre Liebe zu finden.“
Selbst wenn sich Vaters Gesundheitszustand stabilisieren sollte, war es mehr als wahrscheinlich, dass Hessenberg eine Provinz von Brighton sein würde, wenn Nate König wäre. Seit sechzig Jahren hatte man nichts von einem Erbe des Hauses Augustine-Sachsen gehört hatte.
„Liebe? Ah, du suchst nach einer Frau, die in der Lage ist, gleichermaßen die Königin deines Herzens und deines Landes zu sein? Um dafür zu sorgen, dass das Haus Stratton weiterlebt?“
„Du verspottest mich, mein Freund.“ Nathaniel klopfte ihm auf die Schulter, als er an ihm vorbei durch die Tür ging.
„Dich verspotten? Nein, ich beneide dich. Es gibt eine ganze Reihe Kandidatinnen, aus der du dir deine Herzkönigin aussuchen kannst.“
„Die meine Krone wollen, nicht mein Herz.“
„Von denen Lady Genevieve die Unbedeutendste ist.“ Jonathans Tonfall war neckend, herausfordernd.
„Ich seh schon, es war dumm von mir, das Thema Liebe aufs Tapet zu bringen. Können wir jetzt einfach mit dem Abend weitermachen?“
Draußen in der Auffahrt stand Liam in seinem dunklen Anzug und Sonnenbrille wartend neben dem Wagen. Er sah aus wie eine Figur in einem Film. Das war einer der Gründe, warum Nathaniel den ehemaligen Major der Sondereinsatzkräfte mochte. Er sah so sehr danach aus, dass man kaum glauben konnte, dass er wirklich ein königlicher Sicherheitsbeamter war.
Auf dem Weg zu Mrs. Butler schwieg Nathaniel nachdenklich, während sie durch das rosige Abendlicht fuhren, das durch die Blätter der mächtigen Eichen fiel, die die Straße säumten. All das Reden über seine Vorfahren und das Abkommen von 1914 befeuerte die Zweifel, die ihm in den Knochen saßen. War dieser Ruf, König von Brighton zu sein, eine menschliche oder eine göttliche Idee?
Welche Wahl hatte er? Welche Wahl hatte Gott? Nathaniel war der Sohn eines Königs, der der Sohn eines Königs war, der wiederum der Sohn eines Königs war … und so ging es weiter, fünfhundert Jahre in die Vergangenheit.
Und was war mit Vaters Gesundheitszustand, der sich immer weiter verschlechterte? Würde er König werden, bevor er überhaupt bereit dafür war?
Und als wären seine Gedanken noch nicht wirr genug, tauchte sie auf einmal darin auf.
Susanna.
Jon blickte forschend auf den Beifahrersitz. „Weißtduwas? Vergiss das Abkommen. Ich glaube, du hast recht. Deine größte Herausforderung ist wirklich, eine Frau zu finden. Du und Prinz Stephen, ihr seid die Hoffnung des Hauses Stratton.“
Hatte er seine Gedanken irgendwie über den Äther geschickt? „Ich würde mich lieber weiter durch das Abkommen wühlen.“ Er wollte heiraten. Aber nicht, weil das zur Stellenbeschreibung eines Kronprinzen gehörte.
Er wollte aus Liebe heiraten.
Susanna blieb in seinen Gedanken, bis er das Bild, das er sich von ihr gemacht hatte, einfing und es in seinen Gedanken ganz nach unten schob. Von ihr zu träumen war komplette Zeitverschwendung. Er würde mehr Glück dabei haben, einen Erben für den Thron von Hessenberg zu finden, als Susanna Truitt zu heiraten.
Aber er wollte sie sehr gerne wiedersehen, er sehnte sich regelrecht danach. So sehr sogar, dass Jon am Sonntag gefragt hatte, warum er so ein Gesicht mache. Nathaniel hatte es schnell auf Sodbrennen wegen zu viel Pizza geschoben.
Am Sonntag war er zweimal fünf Meilen gelaufen – morgens und abends – um sich von ihr abzulenken. Warum sollte er an etwas denken, was so ganz und gar jenseits des Machbaren lag?
Als er dann heute versuchte, den Text des 99 Jahre alten Abkommens zu lesen, rebellierte sein Verstand. Er weigerte sich schlichtweg, ein weiteres „Infolgedessen“ und „bis dato“ anzunehmen, um von einer Frau mit tiefblauen Augen und einem Lächeln zu träumen, das sein Herz blendete.
Er war in Geschäftsdingen seines Vaters auf diese Insel gekommen und um ein bisschen auszuspannen. Nicht mehr, nicht weniger. Romantik überhaupt in Erwägung zu ziehen war unklug.
Weil sein Name, seine Bestimmung, alles, was mit ihm zu tun hatte, dem König und dem Königreich Brighton gehörte.
Bis hin zu seinem Herzschlag.
Um halb sieben schlüpfte Susanna in das schwarze Etuikleid, das sie – samt einem passenden Paar Schuhe – für Hochzeiten und Militärbälle im Schrank hatte.
Schwarz. Wie passend. Nachdem sie herausgefunden hatte, dass sie so schnell wohl kein weißes Kleid tragen würde, erschien ihr ein eleganter Abend ganz in schwarz, in Gesellschaft der Elite des südlichen Georgia, fast ironisch. Aber sie beschloss, das Ganze eher als einen therapeutischen Ansatz zu betrachten.
Sie bekämpfte einen Anflug von Traurigkeit, als sie sich im Badezimmer ihrem Spiegelbild entgegenlehnte. „Du wirst darüber hinwegkommen. Adam hat nur das gemacht, was du schon lange hättest tun sollen – er hat die Wahrheit gesagt.“
Aber zwölf Jahre? Bäh. In ihrem Magen formte sich ein Knoten, der allerlei saure Bedenken absonderte. Warum war sie still geblieben, obwohl sie tief in ihrem Inneren … ganz tief in ihrem Inneren Bescheid gewusst hatte? Sie stellte ihre Integrität und ihr Urteilsvermögen infrage. Ihren Mut.
Aber sie hatte sich von der Aussicht auf ein sicheres Leben an der Seite des kontrollierten und ehrbaren Adam Peters blenden lassen. Natürlich hatten auch sie ihre Auseinandersetzungen und Konflikte gehabt, aber am Ende war er immer ihre sichere und verlässliche Zukunft gewesen. Jemand, auf den sie sich verlassen konnte.
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