»Reg, wirst du zurechtkommen?«, fragte das Mädel, das ins Kino gehen wollte. Sie sah Tanner mit gerunzelter Stirn an. »Wie müssen nicht ins Kino gehen. Für Rafe ist es voll in Ordnung, wenn wir hier auf dich warten.«
»Ich kann ihnen versichern, dass Miss Beswick in den allerbesten Händen ist.«
»Miss Beswick?«, grinste Mr. Harper. »In den besten Händen?”
»Pssst, Mark. Geht schon. Carrie, mir geht’s gut.« Miss Beswick umarmte die Frau. »Ich ruf dich morgen an.«
»Denk an das Abendessen morgen«, rief Mr. Harper. »Gegen acht.«
Im Büro blieb Tanner weiter stehen. »Lassen Sie uns einfach auf den Punkt kommen.«
»Ja, bitte.« Sie verschränkte wartend die Arme. »Um was geht es denn eigentlich?«
»Ihre Urgroßmutter Alice wurde am 10. Dezember 1897 als Ihre Königliche Hoheit Prinzessin Alice Stephanie Regina geboren, Erbin des königlichen Throns des Hauses Augustin-Sachsen.«
»Bis auf ihren Geburtstag höre ich das alles gerade zum ersten Mal.«
»Ihr Onkel, der Bruder ihrer Mutter, war Prinz Franz, der Großherzog von Hessenberg. Er blieb kinderlos und erklärte seine älteste Nichte zu seiner Erbin.«
»Uroma? Eine Prinzessin? Eine Thronerbin?« Sie kniff ihre Augen zusammen. »Und wie kommt es dann, dass sie nie auch nur eine Silbe …« Unter dem Motoröl wurde sie ganz blass, schlug sich die Hand vor die Stirn und fing wieder an herumzutigern. »Nein, nein, nein …«
»Was ist los?«
»Wir haben früher oft Prinzessin gespielt. Als ich klein war. Aber sie hat nie, niemals etwas darüber gesagt, dass sie eine echte Prinzessin war. Haben Sie sie je getroffen? Nein, wohl eher nicht. Uroma war die liebste, bodenständigste Frau, die man sich vorstellen kann. Sie hat in der Kirche mitgearbeitet und war in jedem Ausschuss, den die Menschheit je gesehen hat. Sie besuchte die Alten und Gebrechlichen. Sie trug dasselbe Paar Schuhe, bis es komplett durchgelatscht war. Fuhr dasselbe Auto 15 Jahre lang und beklagte sich dann, als sie es gegen ein neues eintauschen sollte. Ihr letztes Auto fuhr sie, bis sie 92 war.« Miss Beswick blieb vor ihm stehen. »Das ist verrückt. Uroma? Eine Prinzessin?«
Ihre Worte waren Musik in seinen Ohren. »Miss Beswick, die Frau, die sie gerade beschrieben haben, klingt ganz nach der Prinzessin, zu der sie erzogen worden sein muss. Ganz und gar.«
»Sogar das mit den Schuhen? Und dass sie sich selbst überall hinchauffiert hat?«
Tanner lachte. »Das vielleicht nicht. Aber der ganze Rest.« Er stellte seinen Diplomatenkoffer auf den Schreibtisch. »Sollen wir noch einmal von vorne anfangen?«
Miss Beswick setzte sich langsam. »Bitte. Von vorne.« Sie zog ein Gesicht. »Sie war also wirklich eine echte Prinzessin?«
»Ja.« Tanner überreichte ihr die königliche Akte. »Genau wie Sie, Miss Beswick. Erbprinzessin und Großherzogin von Hessenberg.«

Am Küchentisch las Daddy das offizielle Dokument, das König Nathaniel II. unterzeichnet hatte. Er war zu leise. Zu ruhig.
»Daddy?«
»Hmmm«, grunzte er. »Ich lese.«
»Du hast die letzten zehn Minuten nur gelesen.«
Reggie schaute ihre Stiefmutter an, die mit ernster Miene neben Daddy saß. Über ihrer Schulter sah sie den Fernseher in der Ecke der Wohnküche, auf dem eine Polizeiserie im Standbild eingefroren war, mitten in einer Actionszene.
Den Kopf noch voll mit den aufwühlenden Neuigkeiten hatte Reggie die Werkstatt mit Mr. Burkhardt verlassen und war geradewegs zu Daddy und Sadie nach Hause gefahren. Das Einzige, wonach sie sich mehr sehnte als nach einer Dusche, um sich das Motoröl aus dem Gesicht zu waschen, war die Wahrheit.
Sie hatte Überraschung oder Schock erwartet, als sie Daddy und Sadie mit Mr. Burkhardt im Schlepptau in ihrem gemütlichen Freitagabendprogramm überrumpelte und verkündete, dass Uroma eine Prinzessin gewesen war.
»Was Mama, Gott sei ihrer Seele gnädig, auch zu einer Prinzessin machte. Und nun mich.«
»Daddy«, Reggie tippte vor ihm mit den Fingern auf den Tisch, »wusstest du davon?«
Sadie schlug die Handfläche auf die Tischplatte und schob ihren Stuhl zurück. »Mir ist nach Backen zumute.« Sie sprang vom Tisch auf. »Wer möchte gern Kekse mit Schokostückchen?« Sie buk immer, wenn sich das Leben als schwierig erwies.
»Backen?« Reggie sah zuerst Daddy, dann Sadie streng an. »Daddy, was genau erzählst du mir gerade nicht?«
»Ich fahr dann mal eben zum Laden.« Sadie schnappte sich ihre Handtasche von dem kleinen Küchenschreibtisch. Jawohl, tagsüber mochte sie die Filialleiterin ihrer Bank sein, nachts jedoch war sie eine Stressbewältigungsbäckerin.
»Sadie«, sagte Daddy, und der Klang seiner Stimme ließ sie anhalten. »Ich brauche hier deine Hilfe.«
»Hilfe?« Reggie schaute zwischen ihrem Vater und Sadie hin und her. Am Tischende saß Mr. Burkhardt und sah und hörte aufmerksam zu. »Welche Hilfe?«
»Ich hab dir doch gesagt, dass das passieren würde, Noble.«
»Wir konnten das nicht sicher wissen.« Daddy legte den Brief des Königs auf den Tisch und sah Sadie an. »Aber als ich es ihr erzählen wollte, hast du dich mit mir angelegt, Sadie. Du sagtest, es würde ihr zu Kopf steigen, und sie würde wegrennen.«
»Zu Kopf steigen?«, echote Reggie. »Wann soll das gewesen sein?«
Mit einem Ächzen ließ Sadie ihre Handtasche auf die Arbeitsfläche fallen. »Oh, als du 17 warst und deine rebellische Phase hattest. Dein Vater wollte es dir damals erzählen, weil er meinte, du würdest dich dann besser, besonders fühlen, und das sollte dir dann helfen, mit dem ganzen Stress des Abschlussjahres fertig zu werden. Aber ich habe dafür plädiert zu warten, ehrlich, wir wussten doch nicht, ob da wirklich etwas Wahres dran war …«
»Welche rebellische Phase?«, wollte Reggie wissen. »Ich bin ein paar Mal später als verabredet nach Hause gekommen und wollte die zweite Hälfte des Schuljahrs im Ausland verbringen.«
»Wir«, Sadie wies auf Daddy, »fanden es besser zu warten.« Sie faltete ihre Hände vor der Taille. Ihr sonst so engelhaft-fülliges Gesicht schien ganz abgehärmt und nachdenklich.
Sadie war eine von Mamas besten Freundinnen gewesen. Eine Karrierefrau, keine Ehefrau oder Mutter. Aber als Mama starb, war Sadie zur Stelle gewesen und hatte sich aufopfernd um Daddy und Reggie gekümmert. Ein Jahr nach Mamas Beerdigung hatte Daddy ihr einen Heiratsantrag gemacht.
»Warten worauf?«, fragte Reggie.
»Ich sollte wirklich was backen.« Sadie begann, Küchenschränke aufzumachen. »Mr. Burkhardt, mögen Sie Zuckerkekse?«
Tanner stand auf, knöpfte seine Anzugjacke zu und zog sich hinter seine Fassade aus Anstand und Manieren zurück. »Ma’am, das ist doch nicht nötig …«
»Oh doch, das ist nötig. Und ein einfaches ›Aber ja, ich mag Zuckerkekse‹ reicht völlig aus.« Sadie zog die Mehldose aus dem Schrank.
Er warf einen fragenden Blick auf Reggie. »Sie haben sie gehört. Sagen Sie einfach Ja«, sagte sie.
»Ja, Ma’am, ich mag Zuckerkekse.«
»Prächtig.« Sadie fuhr mit der Inventur ihrer Schränke fort. »Oh, schaut mal, ich habe bunte Streusel gefunden, die vom Vierten Juli übriggeblieben sind.«
Einen Moment lang war nur das Geklapper zu hören, das Sadie veranstaltete, während sie sich die Sachen fürs Keksebacken zurechtlegte. Dann griff Reggie nach dem Brief.
»Also ist das alles wahr?« Sie las laut vor: »Prinz Franz beabsichtigte, dass zum Ablauf des hundertjährigen Abkommens sein Erbe oder seine Erbin, wer auch immer das sein möge, nach Hessenberg zurückkommen und die Monarchie wiederherstellen soll …«
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