Ein eiskalter Schauer ließ seine Abschweifungen gefrieren. Da war er erst seit ein paar Stunden in Amerika und in Gedanken schon dabei, sein Ziel aus den Augen zu verlieren.
Bleibe bei deiner Aufgabe! Konzentriere dich.
Genauso hatte er schon früher versagt, auf diese Weise hatte er seine Lebensberufung in den Sand gesetzt. Und jetzt, zehn Jahre später, nachdem er eine zweite Chance erhalten hatte, musste er feststellen, dass er kein bisschen reifer war als mit 22.
Schau mal, da glitzert was. Und weg war er.
Worum war es denn in den letzten zehn Jahren gegangen? Doch wohl darum, seine Gefühle, Gedanken und seinen Körper zu disziplinieren und unter Kontrolle zu halten.
Sich als würdig zu erweisen.
Tanner lenkte den SUV durch die Abenddämmerung, die sich auf die Stadt herabsenkte. Am Straßenrand begannen die Laternen in einem sanften Licht zu leuchten.
Er übte noch einmal seine Vorstellung. Auf seinem Flug hierher hatte er sie ein Dutzend Mal aufgeschrieben und laut vorgelesen, während er in dem spezialgefertigten Flugzeugrumpf auf und ab gegangen war. Er stellte sich vor, wie er die Worte vor Miss Beswick wiederholen würde, die vielleicht, vielleicht aber auch nicht, über ihr Schicksal Bescheid wusste.
Tanner ging zuerst einmal davon aus, dass sie nichts wusste. So versuchte er, seine Ansprache mit der Hintergrundgeschichte zu spicken, was aber viel zu lange dauerte. Sie würde ihn für verrückt halten, und zwar lange bevor er zu »Sind Sie die wahre Urenkelin von Alice Edmunds, die am 10. Dezember 1897 geboren wurde?« kam.
Er hatte ein gutes Gedächtnis und die Akte und die Details seiner zukünftigen Prinzessin auswendig gelernt. Jetzt ging es darum, sie Miss Beswick überzeugend vorzutragen.
Regina Alice Beswick. Geboren am 21. März 1985. Das einzige Kind von Noble und Bettin Beswick. Bettin war 1997 bei einem Autounfall ums Leben gekommen.
Die Urgroßmutter, Alice Edmunds, verstarb ein Jahr später im Februar 1998 im Alter von hundert Jahren und zwei Monaten.
Ausbildung. Hochschulabschluss an der Florida State University. Ein Bachelor of Arts in Finanzwesen. Akkreditierte Wirtschaftsprüferin. Hochrangige Mitarbeiterin bei Backlund & Backlund. Vor sechs Monaten die Kündigung ihrerseits. Neue Beschäftigung: Inhaberin einer Autowerkstatt.
Der Vater, Noble, besaß eine Klempnerei. Die Stiefmutter, Sadie, war Vorstandsvorsitzende einer Bank.
Vor seinem inneren Auge betrachtete er noch einmal die Fotos von Miss Beswicks Führerschein und ihrer Abschlussfeier an der Universität. Recht angenehm anzuschauen. Viel rotes Haar und blaue Augen, wie Prinzessin Alice.
Während er weiter nach Westen fuhr, wichen die Bilder und Geräusche der Stadt zunehmend denen eines ländlichen Gebiets, die Häuser hatten hier Vorgärten und wurden von Bäumen und allerlei Stauden abgeschirmt. War er hier noch richtig? Hatte er nicht richtig aufgepasst? Er warf einen Blick auf das Navi. Der Pfeil zeigte ihm, dass er immer noch auf der ursprünglichen Route war.
Er atmete aus und lockerte seinen Griff um das Lenkrad. Es wäre nicht das erste Mal, dass er sich verfuhr, weil er in Gedanken ein Dokument oder eine Ansprache durchging.
Die mechanische Stimme des Navis sprach ihn an. »Biegen Sie nach einer halben Meile rechts ab.«
Tanner schloss seine mentale Akte. Seine Mission war kurz davor, in die heiße Phase zu treten.
Konzentrier dich.
Er atmete tief und langsam ein und füllte seine Lunge bis zum Anschlag mit Luft. Du. Darfst. Nicht. Scheitern. Ein einziges Wort kam ihm über die Lippen. Weisheit. Er brauchte Weisheit . Seine Bitte war genau genommen kein Gebet. Tanner hatte nämlich mit Gott eine Vereinbarung getroffen. Sie ließen sich gegenseitig in Ruhe. Blieben in ihren jeweiligen Ecken. Dieses kleine Bittgesuch heute aber galt der Prinzessin. Galt Hessenberg.
Tanners Gedanken und seine ganze Lebenskraft flossen in diesen Herzenswunsch. Miss Beswick, bereiten Sie sich auf die Wahrheit vor.
Das Navi befahl, nach zweihundert Metern rechts abzubiegen.
Tanner ließ seinen Blick über die Landschaft schweifen und entdeckte einen Kreis aus kleinen Lampen rund um einen großen gelben Lichtschein. Ein offenes Tor. Leute gingen ein und aus.
Er bog rechts ab, als das Navi es verlangte, und rumpelte eine geschotterte Auffahrt entlang, wo er hinter dem letzten Auto parkte.
Wahrscheinlich wäre es das Beste, wenn er sich dem Gebäude langsam und vorsichtig näherte. So würde er die Menschenmenge und auch Miss Beswick am besten in Augenschein nehmen können. Er hoffte nur, dass sie nicht bereits gegangen war.
Es herrschte eine lebendige, fröhliche Stimmung. Musik und der Duft nach amerikanischer Pizza lagen in der Luft. Tanner hatte einmal welche gegessen und sie ziemlich gemocht.
Finde einfach den Rotschopf. Bitte lass es nur einen geben …
Zu seiner Linken hatte sich unter dem kalten, nackten Licht eines Baustellenscheinwerfers ein Grüppchen um etwas geschart, das nach einer alten Corvette aussah.
Es herrschte Aufregung um den Wagen, Stimmen hoben und senkten sich. Neugierig ging Tanner etwas näher. Als Jugendlicher hatte er sich für Oldtimer interessiert, aber inzwischen bevorzugte er neuere Modelle.
Er mischte sich unter die Menge und stand Schulter an Schulter neben einem Schwarzen, der seine Mütze verkehrt herum trug und das Auto eingehend studierte.
Die alte Corvette brauchte Arbeit, war aber eine seltene Schönheit.
»Welches Baujahr?«, flüsterte er dem Mann zu.
»53. Eins der Originale. Handgemacht.«
Tanner pfiff. »Reizend.«
Der Mann sah zu ihm auf. »Sie kommen nicht aus der Gegend hier, oder?«
»Nein, Sir.«
»Al mein Name.« Er bot ihm die Hand an.
»Tanner Burkhardt«, sagte er und schlug in Als rauen, festen Griff ein. »Ich bin gerade aus dem Großherzogtum Hessenberg angereist.«
»Hessenberg?« Die braunen Augen des Mannes weiteten sich. »Das ist ein ganz schön langer Weg, um für einen Abend an Reggies Hof zu kommen.« Er lachte. Der satte, samtige Ton seiner Stimme erinnerte Tanner an Jazz. »Aber Reg behauptet, dass die Leute für ein Stück Pizza alles tun und selbst den weitesten Weg auf sich nehmen würden.«
»Reggies Hof, sagten Sie?«
»Ach, wir ziehen sie nur auf und nennen die Treffen am Freitagabend ›Reggies Hof‹. Aber hier kommen nur ein paar Freunde zusammen und reden über Autos und so. Deshalb sind Sie wohl gekommen, nehme ich an. Haben Sie Freunde hier?«
»Eigentlich …« Tanner zögerte. Sollte er die Situation verschleiern? Und Al zustimmen und so tun, als sei er wegen der Autos hier? Ein bisschen mehr Zeit schinden, um die Lage zu beobachten? Nein, besser bei der Wahrheit bleiben. »Eigentlich suche ich nach Miss Regina Beswick.«
Der Mann richtete sich auf und lehnte sich etwas zurück. »Miss Regina Beswick?« Ein Glucksen polterte in seiner Brust. »Ich weiß nicht, ob sie darauf hört, aber Sie können es ja einmal versuchen.« Er zeigte auf die Corvette. »Sie ist da drunter.«
»Unter dem Auto?« Tanner bückte sich, um besser durch die Schatten zu sehen, und fand einen schmalen Lichtstrahl und einen Körper, der sich unter dem Wagen wand.
»Urban«, eine starke Stimme mit ausgeprägtem Südstaaten-Akzent wetterte unter dem Auto hervor, »hast du das Öl überprüft, bevor du mit dem hier durch die Stadt gefahren bist?«
Einer der Männer, die sich versammelt hatten, kauerte sich hin, um zu antworten. Mit seinem ordentlichen Haarschnitt und den feinen, gutgeschnittenen Hosen sah er aus wie jemand, der im gehobenen Wirtschaftsbereich zu Hause war.
»Natürlich habe ich das gemacht.«
Ein Anwalt. Wenn Tanner sich nicht irrte, und er war sicher, dass er sich nicht irrte. Er hatte mit Männern wie diesem … Urban … zusammengearbeitet. So hatte sie ihn doch genannt, oder? Tanner erkannte die Spezies Anwalt, seine Spezies, selbst in Amerika.
Читать дальше