„Du hast gar nichts mit ihr zu tun? Das stimmt nicht ganz! Ihr habt eine gemeinsame Tochter.“
„Ich habe für sie gezahlt. Gut, nicht ganz so regelmäßig, aber was ich konnte, habe ich …“
„Und du meinst, mit Geld … Ach, vergiss es! Da du eh kein Mitgefühl kennst, brauchen wir gar nicht weiter drüber zu reden.“
„Gut. Kann ich dann auflegen? Oder war noch was Wichtiges?“
„Ich soll dir noch einen Gruß bestellen.“
„Ach?“
„Von Blaschke. Hubert Blaschke. Er müsse leider für den angefangenen Monat noch einmal fünf Prozent aufschlagen, meint er.“
„Scheiße!“
„Er hat mich nach deiner Adresse gefragt. Ich habe ihn vertröstet. Aber du kommst übermorgen zur Beerdigung, habe ich versprochen.“
„Ich habe doch gesagt, ich komme nicht!“
„O doch, du kommst! Er will sich das Geld von uns holen, wenn du nicht da bist. Und er will weder auf deine blinde Schwester noch auf dein vierjähriges Kind Rücksicht nehmen. Wir haben jedenfalls keine Lust, deine Probleme zu lösen! Wenn du morgen nicht da bist, und zwar rechtzeitig, dann erfährt dein Freund von mir, wie er dich erreichen kann. Und ich vermute, wenn er extra zu dir nach Bremen kommen muss, wird das für dich teurer und auch unangenehmer, als wenn du dich ihm stellst. Und ich denke, deine Firma muss dann auch erfahren, was ihr Mitarbeiter für Verbindungen …“
„Mann, Hannah! Ich hab keine Ahnung, wie ich das Geld auftreiben soll!“
„Meinst du, ich wüsste das?“
„Gibt es denn keine … lass mich überlegen!“
„Mach, was du willst, Hauptsache, du bist morgen da!“ Sie legt auf.
Eine Weile bleibt sie still sitzen. Erinnerungen an früher ziehen an ihr vorbei. Wie hat sie Florian vergöttert, als sie noch ein junges Mädchen und er ihr großer Bruder gewesen ist! Und wie sehr hat sie ihn immer bewundert! Es kommt ihr vor, als wäre es gestern gewesen, dass sie ihm mit den Händen über das Gesicht fuhr, um zu fühlen, wie er aussieht. Oder wie er sie auf die Schaukel im Garten gesetzt und angestoßen hat und sie das Gefühl hatte, als flöge sie in die Wolken. Oder wie er ihr, stockend und mit vielen Fehlern, als er im zweiten Schuljahr war, Geschichten vorgelesen hat. Oder wie er ihr Mutters altes Puppenhaus beschrieben und die einzelnen Möbel in die Hand gegeben und erklärt hat.
Wann hatte sie eigentlich aufgehört, diese Verbindung? Als Florian ein Teenager wurde, ja, aber warum? Hing es damit zusammen, dass ihr Vater, der damals noch lebte, zu streng war und Florian sich dagegen auflehnte? Nun, übertrieben streng war er eigentlich nicht, aber er hatte „christliche“ Prinzipien, denen Florian sich nicht unterwerfen wollte. Bei ihrer Mutter war der Glaube schon immer mehr Sache des Herzens gewesen, bei Vater eine der Verhaltensregeln. Das hat Florian genervt. Na ja, sie, Hannah, eigentlich auch. Aber sie ist kein rebellischer Typ. War sie nie. Eine Blinde, die weitgehend auf Hilfe angewiesen ist, rebelliert nicht so leicht.
Aber es war wohl noch mehr: Sie hat mehr vom Glauben ihrer Mutter übernommen. Florian aber hat immer nur aus Abwehr bestanden und darum nie verstanden, was der Glaube ihm hätte geben können. Schade …
Jaron bemüht sich schon seit Monaten um die Gunst von Jessica Hebel.
Jessica ist eine Schönheit. Das macht die Sache nicht leicht. Jaron weiß von mindestens zwei anderen Typen, die sich auch um sie bemühen. Aber er ist sicher, dass es noch mehr gibt, von denen er nur nichts weiß.
Dreimal hatten sie sich getroffen. Einmal in einem Café und zweimal zum Abendessen in einem besseren Lokal bei Kerzenschein. Sie hat auch nie etwas gegen einen Abschiedskuss gehabt, aber Jaron hatte jedes Mal den Eindruck, dass das bei ihr mehr ein notwendiges Ritual nach einem gemeinsamen Abendessen war. So, wie man sein Auto abschließt, wenn man angekommen und ausgestiegen ist. Während so ein Kuss bei ihm immer durch den ganzen Körper fuhr, schien er seine Wirkung bei Jessica schon unmittelbar hinter den Lippen, noch vor den Zähnen, verloren zu haben.
Heute wollen sie „eine Kleinigkeit essen“ – er fürchtet allerdings, so klein wird das Loch nicht, das in seinem Geldbeutel entstehen wird – und dann zusammen ins Kino gehen.
Aber Jaron hat einen Trumpf. Jessica ist Journalistin. Wenn er ihr das Foto mit dem Brief zeigt, wird sie begeistert sein. Sie ist immer auf der Suche nach einer Story. Besonders wenn die in der Gegend spielt, denn sie arbeitet in der Lokalredaktion.
Ehrlich gesagt zweifelt Jaron manchmal, ob er auf dem richtigen Weg ist, wenn er sich so um Jessica bemüht. Er ist sicher: Für eine gute Geschichte und ihre Journalistenkarriere würde sie auch ihn verraten. Aber was soll man machen, wenn man verliebt ist?
Als sie ihre „Kleinigkeit“ gegessen haben – für dreißig Euro einschließlich Trinkgeld –, lächelt er sie an und sagt: „Ich hab noch was für dich!“
„Ach? Was denn?“
Er zieht sein Smartphone heraus, ruft das Bild auf und legt es vor ihr auf den Tisch. „Eine Story. Ich muss allerdings gestehen, ich habe nicht um Erlaubnis gefragt. Aber das macht dir doch keine Probleme, oder? Quellenschutz und so.“
Jessica überfliegt den Brief. Er ist nicht leicht zu lesen – Handschrift, und dazu noch stark verkleinert. Aber je weiter sie kommt, desto mehr strahlt sie.
„Aber den codierten Brief von diesem Daniel so und so hast du nicht?“
„Nein. Den könnten wir ja sowieso nicht lesen.“
„Hm. Trotzdem, da kann man eine gute Geschichte draus machen. Ich muss gleich in die Redaktion. Vielleicht schaffe ich’s noch in die morgige Ausgabe.“
„Aber – wir wollten doch ins Kino!“
„Ich fürchte, daraus wird heute nichts, Jaron. Ein anderes Mal vielleicht.“
„Ich habe mir nur mal die ersten Zeilen vorgenommen“, berichtet Mats seiner Schwester.
„Habe die Buchstaben alle untereinandergeschrieben, die darin vorkommen, und gezählt. Dabei habe ich festgestellt, dass nicht alle Buchstaben aus dem Alphabet da stehen. Es fehlen zum Beispiel das W, das X, das V…“
„Bei so einem langen Text wäre es unwahrscheinlich, dass einzelne Buchstaben nicht auftauchen, wenn jeder im Code einem im Klartext entspräche.“
„Dachte ich mir auch. Aber nach welchem Schlüssel …“
Mia kommt rein. „Guck mal, Tante Hannah … Ach so, du kannst ja nicht gucken. Dann guck du mal, Onkel Mats!“
„Mia, stör uns nicht! Wir haben gerade was Schwieriges …“
„Das ist ganz lustig! Oben ist es ein König mit einer Krone, in der Mitte ist es der Schornsteinfeger, und unten ist es der Bauer. Und wenn ich so …“
„Wenn du das verschiebst …“
„Ja, dann ist es oben ein Clown. Und so wird es ein Feuerwehrmann in der Mitte …“
„Da kannst du jede Menge komische Figuren machen. Toll! Aber jetzt lass uns in Ruhe, wir haben hier ein Problem zu lösen!“
Hannah fragt: „Du hast ein Spiel, bei dem man aus verschiedenen Teilen immer andere Figuren zusammensetzen kann?“
„Ja.“
„Lass mal überlegen … Das ist die Idee! Das könnte die Lösung sein!“
„Wie meinst du das?“, fragt Mats.
„Kann es nicht sein, dass ein Buchstabe im Klartext immer durch zwei andere Buchstaben im Code geschrieben wird? Also zum Beispiel A und E bedeuten O. Oder so ähnlich.“
„Hm. Möglich. Aber wie sollen wir das rauskriegen?“
„Lass mich nachdenken!“
„Bitte – viel Spaß.“
Es ist eine Weile still. „Schreib mal alle Buchstaben untereinander auf!“
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