Jaron schaltet das Gerät ab. „Das reicht. Es funktioniert. Und ich muss ja nicht deine Post mithören.“
Er verschweigt, dass er sich schon heimlich in eine persönliche Angelegenheit Einblick verschafft hat. Während der Scanner arbeitete, hat er den handschriftlichen Brief überflogen, den Hannah ihm zunächst geben wollte. Merkwürdig! Ein Brief von 1941! Und da ist von einem Code die Rede! Irgendwas mit Judenverfolgung und verborgenen Schätzen. Er hat lautlos sein Smartphone genommen und den Brief fotografiert.
„Super, danke, Jaron! Jetzt musst du mir nur noch sagen, was ich in welcher Reihenfolge machen muss!“
Das tut Jaron auch. Zehn Minuten später verabschiedet er sich, und Hannah geht ins Wohnzimmer.
„Ich grübele schon über dem Code“, begrüßt Mats sie. „Ehrlich: Ich komme keinen Schritt weiter.“
„Wie bist du die Sache angegangen?“
„Erst mal habe ich gezählt, welcher Buchstabe wie oft vorkommt. Ich dachte, dass der häufigste für ein E steht oder ein N.
Aber kein Buchstabe fällt durch besondere Häufigkeit auf. Und selbst wenn es so wäre – wie sollte ich weitermachen, wenn ich wüsste, was ein E ist?“
„Es muss ja nicht sein, dass ein bestimmter Buchstabe im Code immer ein bestimmter Buchstabe im Klartext sein muss. Das wäre zu einfach.“
„Wie meinst du das?“
Hannah zuckt die Achseln. Es wirkt bei ihr immer etwas unbeholfen, denn sie hat das nie bei anderen gesehen, man hat ihr nur gesagt, dass Achselzucken ein Zeichen für „ich weiß nicht“ ist. „Es ist sicher nicht so ganz schlicht. Wenn sich die Jungs damals so eine Geheimschrift ausgedacht haben, werden sie vermutlich einiges an Überlegungen investiert haben, um die Sache einigermaßen sicher zu machen.“
„Weiß nicht, wie wir da ohne die Hilfe eines Fachmanns weiterkommen sollen!“
„Gib nicht gleich auf, Bruderherz! Hast du nicht ’ne Zwei in Mathe?“
„Das hat doch nichts mit Mathe zu tun! Außerdem – bist du in Mathe nicht noch besser gewesen?“
„Am besten, du diktierst mir mal die ganze Buchstabenfolge, und ich schreibe sie mir in Brailleschrift auf. Dann kann ich auch alleine darüber nachdenken.“
„Okay. Bleib sitzen, ich hole deine Maschine.“
Und dann diktiert Mats: „NPDBNUZJMILATHDCDUGBKAGL …“
Mama kommt rein. Sie macht ein Gesicht, als könnte sie sich nicht entscheiden, ob sie zornig oder traurig sein soll.
„Ist was?“, fragt Mats. „Wo ist Mia?“
„Sie spielt. Ich habe mit Florian telefoniert. Unglaublich. Er will nicht zu Jennis Beerdigung kommen!“
„Aber das muss er!“, empört sich Hannah.
„Hab ich ihm auch gesagt. Sie war seine Freundin, und vor allem, sie ist die Mutter seines Kindes gewesen!“
Mats ergänzt: „Und wenn es Selbstmord war, kann man wohl auch sagen, dass er an ihrem Tod nicht ganz unbeteiligt ist.“
„Mit so einer Aussage muss man vorsichtig sein!“, mahnt seine Mutter. „Aber unabhängig davon – es ist egoistisch und ignorant und … ach, was rege ich mich auf. Ich habe mir schon oft genug fest vorgenommen, mich durch Florians Verhalten nicht in einen Nervenzusammenbruch treiben zu lassen. Was macht ihr da?“
„Hannah will den codierten Brief in Braille haben, damit sie miträtseln kann.“
Mama nickt und setzt sich neben ihrer Tochter auf das Sofa. „Wenn man sich das Elend von diesem Daniel Grüntal vorstellt … Es gab und gibt wohl noch größere Sorgen als meine.“
Hannah bleibt stehen, noch ehe ihr Stock an ein Hindernis gestoßen ist.
„Guten Abend, junge Frau!“, sagt eine Männerstimme. Sie klingt etwas piepsig, und Hannah hört auch, dass der Mann etwas kleiner sein muss als sie. „Nicht schlecht! Woher wussten Sie, dass ich Ihnen im Weg stehe? Ich war ganz leise!“
„Aber nicht der Hund, den Sie da neben sich haben.“
Dass der Mensch nicht besonders freundlich wirkt, liegt nicht nur an der übertriebenen Höflichkeit seiner altmodischen Formulierungen, sondern auch am Tonfall seiner Stimme.
„Würden Sie mir jetzt bitte den Weg freigeben?“
„Einen Augenblick noch, wenn Sie gestatten, Frau Droste.“
„Kennen wir uns?“
„Vermutlich kennen Sie mich nicht“, antwortet der Fremde, „aber ich kenne Sie. Habe Sie in den letzten Tagen beobachtet. Aber ich stelle mich gern vor. Blaschke ist mein Name. Hubert Blaschke. Sie sollten sich den Namen gut merken, weil ich Sie bitten muss, Ihrem Bruder Florian einen Gruß von mir zu bestellen. Ach – das ist eigentlich auch nicht nötig, ich kann ihn selbst grüßen, wenn Sie mir sagen, wo ich ihn finde.“
„Mein Bruder wohnt nicht hier.“
„Ich weiß. Deswegen brauche ich ja seine neue Adresse.“
„Warum sollte ich das tun?“ Hannah gibt sich gelassener, als sie sich fühlt.
„Ganz einfach. Er schuldet mir Geld. Und der Termin für die Rückzahlung war gestern. Darum muss ich ihn daran erinnern und – leider – noch einmal fünf Prozent aufschlagen. Für den angefangenen Monat. So steht es in unserem Vertrag.“
Hannah überlegt hektisch. Ist es wahr, was der Mann sagt? Und wenn es wahr sein sollte – was durchaus möglich ist, so, wie sie Florian kennt –, soll sie ihm dann seine Adresse geben? Muss sie ihren Bruder schützen? Oder ist es vielleicht sogar gut, wenn er lernt, mit seinen Problemen allein fertig zu werden?
„Ich warte!“, sagt der Fremde in ironisch freundlichem Ton.
„Ich kann doch nicht einfach jemandem, den ich nicht kenne …“
„Es tut mir leid, dass ich mich genötigt sehe, meinem Ersuchen etwas Nachdruck zu verleihen. Und zwar mit der Feststellung, dass ich mich auf jeden Fall schadlos halten werde. Wenn nicht bei meinem treuen Kunden Florian, dann eben bei seiner Verwandtschaft. Zum Beispiel bei seiner Schwester. Oder bei – ist das süße, blonde, kleine Mädchen, das in Ihrem Haus wohnt, nicht seine Tochter?“
Hannah nickt, zum Sprechen ist sie vor Schreck nicht fähig.
„Also?“, drängt der Mann. Der Hund neben ihm unterstreicht die Forderung seines Herrchens durch ein Knurren – seine Reaktion auf den plötzlich schärferen Ton. Da dem Mann vermutlich wegen seiner geringen Körpergröße die Autorität fehlt, die er in seinem Geschäft braucht, hat er sich den Hund zugelegt. Als Autoritätsverstärker.
„Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Herr …“
„Blaschke. Hubert Blaschke.“
„Herr Blaschke. Morgen wird mein Bruder kommen. Vielleicht haben Sie mitbekommen, weil Sie doch so gut über uns informiert sind, dass seine frühere Freundin, die Mutter des kleinen Mädchens, gestorben ist. Morgen ist die Beisetzung. Da können Sie ihn selbst sprechen. Um vierzehn Uhr auf dem Friedhof.“
„Hm“, brummt Blaschke, „hm. Gut, bis dahin werde ich mich gedulden. So, Hektor, dann geh mal etwas zur Seite. Bitte, Frau Droste! Und auf Wiedersehen! Oder sagt man das nicht zu einer Blinden?“
Hannah antwortet einfach nicht und geht weiter. Mats kommt ihr mit dem Fahrrad entgegen und grüßt im Vorbeifahren. Zu Hause stellt sie fest, dass sie allein ist. Ihre Mutter macht anscheinend einen Spaziergang mit Mia oder tratscht mit einer Nachbarin.
Sofort nutzt sie die Gelegenheit, Florian anzurufen. Er ist auch gleich am Telefon.
„Hier ist deine Schwester.“
„Hallo, Hannah! Ich sage dir gleich: Zur Beerdigung komme ich nicht! Wenn es also darum geht, mich zu beknien, obwohl ich Mama schon abgesagt habe, dann hast du umsonst angerufen.“
„Du schämst dich echt gar nicht, oder?“
„Warum sollte ich? Mensch, Hannah, was ist los mit dir! Ich war nur ein paar Monate mit Jenni zusammen. Und das ist schon lange her. Ich habe nichts mehr mit ihr zu tun gehabt, gar nichts. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sie es gern anders gehabt hätte.“
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