Nach einer Zeit, die ihm wie eine Viertelstunde vorkommt, aber wohl nur zwei oder drei Minuten dauerte, öffnet Frau Schultheiß im ersten Stock ein Fenster und schaut heraus.
„Frau Schultheiß, entschuldigen Sie …“, flüstert er. Sie schneidet ihm mit einer Handbewegung das Wort ab und antwortet nur: „Moment!“
Kurz darauf öffnet sich die Haustür. Seine Lehrerin steht da im Morgenrock. Daniel fällt zum ersten Mal auf, dass sie ziemlich gut genährt aussieht. Was einem alles durch den Kopf geht, wo es doch jetzt viel Wichtigeres gibt!
Frau Schultheiß nickt ihm zu. „Komm rein, Daniel!“ Anscheinend hat sie sofort begriffen, worum es geht.
„Nicht lange, Frau Schultheiß, nur für den Rest der Nacht und morgen. In der nächsten Nacht will ich weiter …“
„Mach einen großen Schritt über die dritte Stufe! Die knarrt so laut.“
Als sie in ihrer Wohnung sind, gehen sie vom Flüstern wieder zu normaler Lautstärke über. „Sie wollten uns holen“, erklärt er. „Ich bin geflohen. Aber sie haben meine Mutter …“
„Es tut mir leid, Daniel. Aber erzähle mir nichts weiter. Besser, ich weiß möglichst wenig. Möchtest du dich noch etwas zum Schlafen aufs Sofa legen?“
„Ich kann jetzt doch nicht schlafen. Aber ich würde gern – hätten Sie bitte ein Blatt Papier und einen Stift für mich?“
„Selbstverständlich.“ Sie holt beides aus einem anderen Raum, nimmt die Zierdecke vom Wohnzimmertisch und legt das Papier darauf. „Da kannst du schreiben.“
„Und würden Sie auch noch … Ich weiß, es ist unverschämt, ich dringe mitten in der Nacht hier ein und …“
„Lass mal! Ich helfe gern. Ich soll den Brief, den du schreibst, abschicken?“
„Ja, bitte. An Hans Droste. Die Adresse haben Sie ja von der Schule. Ich schreibe sie noch mal auf.“
„Das mache ich. Ich gehe jetzt wieder ins Bett. Du kannst dich nachher aufs Sofa legen. Solltest du morgen noch schlafen, wenn ich in die Schule muss – da ist Brot und was du sonst noch brauchst für ein Frühstück.“
„Ganz herzlichen Dank!“
„Schon gut! Ich wünsche dir … ja, was? Alles Gute? Der Wunsch ist vielleicht zu hoch gegriffen. Gutes Gelingen für deine Pläne wünsche ich dir. Und dass deine Mutter … na, gute Nacht, Daniel!“
Sie tritt auf den Flur hinaus, um ins Schlafzimmer zu gehen, so schnell, dass Daniel sein „gute Nacht“ nur noch zu der verschlossenen Wohnzimmertür sagen kann.
Dann legt er den Rucksack auf den Boden, setzt sich an den Tisch und nimmt den Stift zur Hand.
Kassel und Umgebung, 75 Jahre später
„Ah – Mia! Ich freue mich, dass du mich besuchst!“
„Mama hat gesagt, ich soll dich besuchen, Oma.“
„Du sollst mich besuchen? Du tust es aber doch gern, nicht wahr?“
„Klar, Oma! Ich hab dich doch lieb!“
„Ich dich auch. Dann komm mal rein!“
Die Großmutter und ihre Enkelin gehen in die Küche, wo Annette gerade dabei war, Kartoffeln zu schälen. Jetzt nimmt sie die Arbeit wieder auf, und die Enkelin setzt sich auf einen Küchenstuhl. „Können wir was spielen, Oma?“
„Was denn?“
„Ich sehe was, was du nicht siehst.“
„Ach, weißt du, das geht schlecht, wenn ich das Essen vorbereite. Besser, wir unterhalten uns ein bisschen.“
„Ist gut.“
„Hat denn deine Mama was Besonderes vor, dass sie nicht auf dich aufpassen kann und dich hergeschickt hat?“
„Weiß ich nicht.“
„War’s schön im Kindergarten?“
Mia nickt. Nach einer Weile sagt sie: „Du, Oma!“
„Ja?“
„Warum habe ich keinen Papa?“
„Wie kommst du denn darauf? Du hast einen Papa. Jeder hat einen.“
„Das stimmt nicht. Im Kindergarten haben alle einen. Nur ich nicht.“
Frau Droste legt die letzte Kartoffel ins Wasser und das Schälmesser aus der Hand. „Hast du deine Mama danach gefragt?“
„Die hat gesagt, ich soll dich fragen.“
„Gut, ich erkläre es dir.“ Sie setzt sich auch, Mia verlässt ihren Sitzplatz und drängt sich bei Oma auf den Schoß. „Dein Papa ist mein Sohn. Darum bin ich deine Oma. Aber Papa hat deine Mama nicht geheiratet. Und er wohnt auch nicht hier. Er arbeitet ganz weit weg. Darum ist er nicht da, und es sieht so aus, als hättest du keinen Papa.“
„Und warum ist er nicht da?“
„Das ist eine gute Frage, Mia. Aber ich kann sie dir nicht beantworten. Ich habe ihm oft gesagt, er soll doch deine Mama heiraten, damit ihr eine richtige Familie seid. Und hierbleiben. Aber er will nicht auf mich hören.“
Anette Droste fürchtet, ihre Enkelin nun in Probleme gestürzt zu haben, und ist darum angenehm überrascht, als Mia unbefangen das Thema wechselt. „Wo ist denn Melanchton?“
Melanchton ist der Kater der Familie. „Ich habe ihn nicht gern in der Küche, wie du weißt. Aber wir wollen mal eine Ausnahme machen. Er wird drüben sein, du kannst ihn holen.“
Kurz darauf sitzt Mia wieder auf ihrem Stuhl mit dem Kater Melanchton auf dem Schoß. Oma werkelt am Herd.
„Mein Papa ist dein Kind“, rekapituliert das Mädchen. „Und Tante Hannah ist auch dein Kind. Und Onkel Mats.“
„Richtig.“
„Tante Hannah kann nichts sehen. Aber ich hab sie gern.“
„Na klar, wenn jemand blind ist, kann man ihn ja trotzdem gernhaben. Hast du denn auch Mats gern?“
Mia wiegt den Kopf und überlegt. „Ja, aber nicht so wie Tante Hannah“, antwortet sie schließlich.
„Wenn dein Papa hier wäre, würdest du ihn sicher auch liebhaben.“
„Weiß nicht. Ich kenne ihn ja nicht.“
„Du hast ihn aber schon gesehen.“
„Da muss ich aber noch sehr klein gewesen sein. Ich kann mich nicht mehr erinnern.“
„Ja, das stimmt, da warst du noch ziemlich klein. Vielleicht zwei Jahre, oder zweieinhalb. Zu Mats’ Konfirmation war er das letzte Mal hier, und das ist jetzt zwei Jahre her.“
Mia krault den Kater, und der knurrt behaglich.
„Ich helfe Tante Hannah manchmal. Wenn sie was sucht, zum Beispiel. Weil sie’s nicht finden kann.“
„Das ist sehr lieb von dir.“
„Aber gehen kann sie alleine. Mit ihrem Stock, da fühlt sie immer, ob was im Weg ist. Sie kann auch ganz alleine mit dem Bus fahren. Wenn sie von der Arbeit kommt.“
„Ja, sie weiß genau, wo es langgeht und was sie machen muss.“
„Da könnte ich ihr gar nicht helfen. Weil ich nicht weiß, was man machen muss beim Busfahren. Aber sie weiß es.“
Anette mischt Hackfleisch, weil sie Frikadellen braten will.
„Du, Oma.“
„Ja?“
„Tante Hannah heißt Hannah, Mats heißt Mats – und wie heißt mein Papa?“
„Florian heißt er. Er ist das älteste von meinen Kindern. Hat dir das deine Mama noch nicht gesagt?“
„Nein. Sie hat mir nichts von ihm erzählt. Wenn ich sie frage, wird sie immer traurig. Darum frage ich sie nicht.“
„Aber mich kannst du fragen.“
Mia hebt den Kater hoch und drückt die Wange in sein Fell. „Dich hab ich lieb, Oma. Und Melanchton auch.“
„Und deine Mama doch sicher auch?“
„Ja, die auch. Und Tante Hannah. Und ein bisschen auch Mats.“

Der Landwirt August Knabe tuckert mit seinem Traktor über den Acker. Als er aus den Augenwinkeln eine schnelle Bewegung auf der Straße wahrnimmt, blickt er auf. Wer rast denn da so verrückt auf einer schmalen Landstraße, deren Asphalt auch schon ziemlich löchrig ist? Ein gelber Kleinwagen!
Der Rentner Ottfried Lieb bleibt so plötzlich auf seinem Spaziergang stehen, dass sein Stock, den er gerade beim nächsten Schritt aufsetzen wollte, oben bleibt und ziemlich genau auf das gelbe Fahrzeug weist. Das Ding wird ja immer schneller! Das kann doch nicht gutgehen!
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