»Der reflexive Umgang mit Recht verlangt vom parlamentarischen Gesetzgeber zunächst Entscheidungen auf einer Metaebene – Entscheidungen darüber, ob er überhaupt entscheiden soll, wer an seiner Stelle entscheiden könnte und, falls er entscheiden will, welche Folgen sich für die legitime Verarbeitung seiner Gesetzesprogramme ergeben« (FG, 529).
Anders als in den Paradigmen des Formalrechts oder des Sozialrechts wird hier kein spezifisches Rechtsmodell begünstigt: Bürger und Gesetzgeber sind zur Deliberation über spezielle Regulierungsmaßnahmen ebenso verpflichtet wie zu Entscheidungen auf der Meta-Ebene über die optimale Methode, jene durchzuführen, ohne dabei Bürger auf passive Kunden zu reduzieren. Dies kann durch die Entscheidung für gewohnte Wege des Rechts (d. h. gesetzt und materialisiert) geschehen. Möglich ist aber auch – wie Habermas vorsichtig suggeriert – das Experimentieren mit anderen Mitteln.
Damit ist selbstverständlich noch lange nicht alles zum Thema des prozessualen Rechts gesagt. Trotz seines tatsächlich vorhandenen Potentials haben auch wohlwollende Leser kritische Fragen gestellt.34 In dem begrenzten Rahmen dieser Arbeit wende ich mich dabei nur einer der programmatischen Lücken zu.
Habermas vereinigt direkt die Möglichkeit der erfolgreichen Institutionalisierung des prozessualen Paradigmas mit der Aussicht auf eine Fortführung des Sozialstaates ›auf höherer Reflexionsstufe‹. Im Gegensatz sowohl zu Neoliberalen, die ihn ›abbrechen‹, als auch zu denjenigen Linken, die ihn auf herkömmlich staatszentrierten Wegen ausbauen wollen (und dadurch eine Verschärfung der privilegierten Stellung des Verwaltungssystems riskieren), glaubt Habermas, dass wir einen weiter entwickelten, ›reflexiven‹ Sozialstaat benötigen, in welchen das Verwaltungssystem durch »schonende Formen indirekter Steuerung« den Kapitalismus auf sozial und ökologisch feinfühligen Wegen umstrukturiert (FG, 410). Wie bereits in der Theorie des kommunikativen Handelns wird das Schicksal des Sozialstaates, wenig überraschend, unmittelbar mit der Möglichkeit einer alternativen Form gesetzlicher Regelung verknüpft. Ob wir den Kapitalismus humanisieren und eine ökologische Krise vermeiden können, hänge ebenfalls von der Erfüllung beider Aufgaben ab – vom Umbau des Sozialstaats wie von der Einführung des prozessualen Paradigmas.
Aus einer bestimmten Perspektive ist dies eine überaus vernünftige Haltung, welche diejenigen von uns, die Habermas’ intellektuelle Entwicklung seit Jahren und mit Bewunderung verfolgen, einnehmen können und sollten. Aus einer anderen Perspektive aber scheint etwas zu fehlen: Nicht nur offeriert uns Habermas kaum konstruktive Ideen, wie ein besserer Sozialstaat konkret aussehen könnte, geschweige denn, wie er auf die Beine gestellt werden könnte. Darüber hinaus können uns auch viele Schlüsselkonzepte seiner eigenen Theorie leicht dazu bewegen, konventionelle Inhalte der politischen Ökonomie zu ignorieren, die wesentlich sind für jeden ernsthaften Versuch, den Kapitalismus zu zähmen und den Sozialstaat zu bewahren. Nachdem er Kapitalismuskritik in neuartigem Ausmaß als Kritik der Verrechtlichung neu formuliert, und in der Folge die erstere zu Gunsten der letzteren regelmäßig vernachlässigt hat, gibt Habermas letztendlich implizit zu, dass kritische Theorie beide benötigt: Ohne eine aktualisierte kritische Theorie der politischen Ökonomie des Kapitalismus, mit der wir den zahlreichen Wegen, auf denen er Sozialpathologien generiert, gerecht werden, werden wir weder den Sozialstaat voranbringen, noch eine neue und potenziell überlegene Gesetzgebungs- und Rechtsreform institutionalisieren können.
Natürlich muss dies ohne einen Rückfall in grobschlächtigen Marxismus geschehen. Auch müssen wir vermeiden, die vielen fruchtbaren Einblicke in modernes Recht zu vernachlässigen, um die Habermas die kritische Theorie bereichert hat. Und dennoch: Eine substanzielle und facettenreiche Kapitalismuskritik – in Teilen inspiriert von traditionell-linker Theorie – darf uns bei unseren Bemühungen nicht abhandenkommen.35
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