Dies gilt aber auch für das Prinzip der Diskursethik. Zumal, wenn man – wie Matthias Kettner – die Auffassung vertritt, dass Diskursethik »die individuelle wie kollektive Verantwortung […] von Argumentationsgemeinschaften für die vernünftige […] Ausübung diskursiver Macht«85 zur normativen Grundlage mache. Wer so argumentiert, setzt auf die moralisch integre Kraft der »guten Gründe«, an denen man sich im Handeln orientieren kann. Mit einem Wort: auf die Macht der Vernunft , die zeigt, dass es Gründe gibt, die von allen vernunftbegabten Wesen als »gute Gründe« akzeptiert werden.
Eine affirmative Diskursethik tritt das aporetische Erbe idealistischer Moralphilosophie an. Nur wenn man ihre Ambivalenz nicht übersieht, kommt ihre Bedeutung als Einspruchsinstanz kritischer Normativität zum Tragen. Es gilt, den Universalismus der Diskursethik durch die Kritische Theorie zu relativieren. Gunzelin Schmid Noerr hat deutlich gemacht, dass
»die diskursive Vernunft allein weder Quelle noch Motiv der Moralität [ist]. Der positive Universalismus eines kommunikativen Minimalkonsenses hat seine Basis im negativen Universalismus, auf den die Ethik der älteren Kritischen Theorie hingewiesen hat. Das die Menschen Verbindende ist demnach ihre Verletzbarkeit und Sterblichkeit, die Beeinträchtigung ihres Selbstwertgefühls. Adorno geht nicht, wie Habermas, von einer idealen Sprechsituation aus, sondern von den Menschen im Stand ihrer faktischen Unfreiheit, und in der wird die moralische Orientierung erfahrbar an ›Auschwitz‹ als einem Paradigma für die äußerste Verletzung der Menschen.«86
Adorno zufolge ist Moralphilosophie nur zu retten als Differenzbestimmung zu dem, was der Fall ist, und als kritischer Maßstab dessen, was sein könnte oder sollte.87 Sie muss die Frage nach der Rechtfertigung des Bestehenden aufwerfen. Ist die kritische Dimension erst einmal entbunden, dann ist sie der ursprünglichen »sozialen Funktion der Moral« entgegengesetzt, die darin besteht, »die gesellschaftlichen Normen zu verinnerlichen«88. Erst dann ist Raum für die Autonomie des Einzelnen.
Aus der Ambivalenz der Moral würde nach Adorno nur herrschaftsfreie Praxis herausführen. Ihre Stellvertretung mit Blick auf die Medien wäre eine Mischung aus Verweigerung und Umnutzung, also sowohl Boykott als auch Infiltrierung der Kanäle. Zu diesen überlieferten Optionen der klassischen und neueren Moderne könnte heute der Entwurf einer autonomen Politik der Medien hinzutreten. Dieser hätte Formen des medialen Handelns zu beschreiben und zu erproben, in denen Medienpolitik nicht als Herrschaftsmittel oder als staatliche Geschäftsführung der medialen Produktionsmittel im Privatbesitz, sondern als selbstorganisierte Praxis verstanden wird.
Der Verantwortungsbegriff der Medienethik ist als normatives Korrektiv des Medienbetriebs gedacht. Aber weil er so unbestimmt ist, eignet er sich vortrefflich, um dem Betrieb ein gutes Gewissen zu geben – besonders in Verbindung mit dem Öffentlichkeits-Optimismus und dem moralisch überhöhten Konzept der Demokratie. Demokratie ist eine Form politischer, sozialer und wirtschaftlicher Verwaltung und Herrschaft; sie ist per se moralisch neutral, »gleichermaßen bereit, Gutes wie Böses in sich aufzunehmen«89. Solange die öffentliche Sphäre der Medien die ideologischen Geschäfte der ökonomischen Privatsphäre betreibt, heißt »demokratische Verantwortung wahrnehmen« nicht viel mehr als: demokratische Herrschaft legitimieren, indem man die Zustimmung seitens der Unterworfenen sicherstellt, die kein Konzept von Widerstand entwickeln können, weil Kritik auf »Meinung« reduziert bleibt.90 Medienerziehung in Familie und Schule, die Rüdiger Funiok fordert, um das Publikum durch »demokratische[…] Medienpolitik« an seine »Mitverantwortung für die Qualitätssicherung der Medienkommunikation« zu erinnern und »die Beteiligung des Publikums […] zu verbessern«91, dürfte da auch nicht viel weiterhelfen.92
Gleichwohl kann eine kritische Theorie der Medien natürlich auch von der Medienethik lernen: vor allem, dass sie nicht ohne Handlungstheorie auskommt. Denn eine kritische Medientheorie sollte auch eine Kritik der systemtheoretischen Beschreibung sein, derzufolge die Steuerungsmechanismen des Systems der Massenmedien allein für die Prozesse der Produktion, Distribution und Rezeption von Medien zuständig sind und normativ-ethische Ansätze als überflüssig gelten. Kritische Medientheorie hat zu rekonstruieren, wie das selbst- oder fremdbestimmte Handeln der sozialen Akteure jene Prozesse formt.93 »Verantwortung« könnte insofern auch ein Schlüsselbegriff einer gesellschaftstheoretisch und historisch reflektierten Ethik sein.
William E. Scheuerman
Kapitalismus, Recht und Sozialkritik*
Habermas’ knappe Erörterung der ›Verrechtlichung‹ auf den letzten Seiten der Theorie des kommunikativen Handelns1 spielt für seine Arbeit eine wichtige Rolle. Nach der Vorstellung einer ambitionierten sozialtheoretischen Ergänzung zu seiner Theorie des Primats kommunikativen Handelns schließt Habermas mit der Feststellung: »Aber eine solche, stets der Gefahr der Überverallgemeinerung ausgesetzte Theorie muß angeben können, welche Art von Empirie zu ihr paßt« (II, 523)2 – also eine Empirie, der wir uns zuwenden und deren Nutzen wir einschätzen können. Durch die Zusammenführung von Erkenntnissen aus der breitgefächerten Untersuchung der Pathologien sozialstaatlicher Rechtsvorschriften hofft Habermas, seine ansonsten abstrakt-theoretischen Überlegungen mit vergleichsweise bodenständiger Sozialforschung zusammenführen zu können. Dies soll ihn darüber hinaus in die Lage versetzen zu erklären, wie sein Theoriesystem zur kritischen Sozialdiagnose beitragen kann: Belegbare, empirische Erkenntnisse zu juristischen Dilemmata könnten durch sein philosophisches und sozialtheoretisches Werk am besten erfasst werden. Da diese Erkenntnisse dahingehend interpretiert werden können, dass sie ein zwar diffuses, aber allgegenwärtiges Unbehagen mit existierenden Institutionen ansprechen, könnte sich die Theorie kommunikativen Handelns gleichzeitig als die geeignetste der vorliegenden Neuformulierungen kritischer Sozialtheorie etablieren.
Vertrautheit mit Habermas’ späterer Konzentration auf Fragen der Jurisprudenz könnte dazu verleiten, zu übersehen, wie überraschend diese Umorientierung tatsächlich ist: Der führende Theoretiker des Frankfurter Neomarxismus verlangt von kritischer Theorie die Hinwendung zur trockenen Materie des Sozialrechts als Methode, um die elementaren Spannungen der heutigen Gesellschaft verständlich zu machen. Traditionelle linke Kapitalismuskritik, so scheint es, könnte in überraschendem Ausmaße als Kritik der Verrechtlichung umgestaltet werden (letzteres eine eher hässliche Wortschöpfung, die progressive Sozialwissenschaftler und Rechtstheoretiker zur Beschreibung ebenso unschöner Facetten der zeitgenössischen Rechtsentwicklung nutzten).
Im Folgenden kehre ich zu den theoretischen Grundlagen zurück, die Habermas zur partiellen Neuformulierung der Kapitalismuskritik als Kritik der Verrechtlichung dienen. Dies geschieht aus zwei Gründen. Erstens bin ich trotz wichtiger Bemühungen auf diesem Gebiet nicht der Meinung, dass die bisherigen, kritischen Darstellungen die immanenten Schwächen hinter diesem Wandel ausreichend aufgezeigt haben.3 Habermas behauptet in der Theorie kommunikativen Handelns , dass die Kritik der Verrechtlichung direkt auf zentralen Komponenten seines breiteren Theoriesystems aufbaut (Teil I). Folgerichtig könnten uns die diagnostischen Schwachstellen jener Kritik unter Umständen ermöglichen, tiefergehende Ambiguitäten seines Denkens zu identifizieren (Teile II, III). Zweitens sind diese Schwächen auch für eine Evaluierung seines späteren Werkes Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats und dessen Beitrags zur kritischen Sozialtheorie entscheidend. In meinen Augen bietet dieses Buch eine in vielerlei Hinsicht überlegene Beschreibung der Pathologien heutiger Verrechtlichung. Dennoch finden sich auch hier die Schwächen der früheren Erörterung wieder. Insbesondere die Überzeugung, dass sich traditionell linke Kapitalismuskritik am besten als Rechtskritik artikulieren lasse (Teile IV, V).
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