Susanne Luther / Manuel Vogel / Christian Strecker
ZNT - HEFT 48 (2021)
24. Jahrgang (2021), Heft 48, Thema: Kinder
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Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
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ISBN 978-3-7720-8755-4 (Print)
ISBN 978-3-7720-0184-0 (ePub)
Liebe Leserin, lieber Leser,
das aktuelle Heft der ZNT greift ein Thema auf, das eine neue Perspektive auf die Texte des frühen Christentums eröffnet. So geläufig frühchristliche Texte sind, die metaphorisch von „Kindern“ sprechen, etwa in der Rede von der Gotteskindschaft oder dem Annehmen des Gottesreiches „wie ein Kind“, so wenig standen „Kinder“ lange Zeit als kultur- und sozialgeschichtliches Thema auf der bibelwissenschaftlichen Agenda. Mittlerweile gibt es hierzu jedoch einen regen, intensiven und ertragreichen Forschungsdiskurs. In diese Forschung führt Reidar Aasgaard unter der Rubrik NT aktuell detailliert ein.
Der erste der drei Beiträge zum Thema von Albertina Oegema und Annette Merz zu neutestamentlichen und rabbinischen Gleichnissen nimmt exemplarisch die in der neutestamentlichen Forschung notorisch zu wenig beachtete rabbinische Literatur in den Blick und erschließt zugleich mit agency einen wichtigen sozialwissenschaftlichen Begriff. Anna Rebecca Solevåg befasst sich im zweiten Beitrag mit der Stellung von Müttern und Kindern in den Pastoralbriefen. Auch hier geht es um das Ausloten sprachlich-metaphorischer und sozialgeschichtlicher Bezüge. Bert Jan Lietaert Peerbolte ergänzt das Thema des Heftes um wichtige bildungsgeschichtliche Aspekte.
Die von Susanne Luther eingeleitete Kontroverse wird von Reidar Aasgaard und Ursula Ulrike Kaiser bestritten. Gegenstand ist das apokryphe Kindheitsevangelium des Thomas , und zwar hinsichtlich der spannenden Frage, ob es sich bei dieser Schrift des spätantiken Christentums regelrecht um ein Kinderbuch handelt.
Wolfgang Grünstäudl unterzieht in seinem Beitrag unter der Rubrik Hermeneutik und Vermittlung den in der Erforschung von Kindern und Kindheit interdisziplinär vielfach angewendeten childist criticism einer eingehenden und instruktiven Methodenreflexion.
Wie weit die Forschung inzwischen gediehen ist, zeigt abschließend der Buchreport: Das von Tanja Forderer vorgestellte T&T Clark Handbook of Children in the Bible an the Biblical World von 2019 repräsentiert einen thematisch, methodisch und quellenspezifisch ausdifferenzierten Diskurs und setzt diesen variantenreich fort.
Susanne Luther
Christian Strecker
Manuel Vogel
NT aktuell
Kinder und Kindheit im Neuen Testament und seiner Welt
Beiträge und Trends der modernen Forschung
Reidar Aasgaard
Prof. Dr. Reidar Aasgaard, geb. 1955, Studium der Philologie und Theologie an der Universität Oslo, zehn Jahre Pfarrdienst in der Norwegischen Lutherischen Kirche, Doktor er Theologie 1999 (Neues Testament), Postdoc und außerordentlicher Professor an der Theologischen Fakultät der Universität Oslo bis 2008, seit 2009 Professor für Ideengeschichte an der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Oslo, Leiter des internationalen Projekts zur Geschichte der Kindheit in der antiken Welt 2013–2017. Forschungsschwerpunkte sind Kindheitsgeschichte, Paulus, Apokryphen des NT, Augustinus und Bob Dylan. Webseite: www.hf.uio.no/ifikk/english/people/aca/history-of-ideas/tenured/reidaraa/index.html
Warum sollten wir Kinder und Kindheit erforschen? Weil Kinder zu allen Zeiten in der Geschichte der Menschheit wichtig waren. Weil jeder Mensch einmal ein Kind war. Weil Kinder nicht in der Lage sind, über sich selbst zu forschen. Weil wir Erwachsenen unsere Kindheit unser ganzes Leben lang mit uns herumtragen. Und weil wir viel über unsere Werte und Wertvorstellungen lernen können, wenn wir die Haltung der Erwachsenen gegenüber Kindern untersuchen.
Warum sollten wir die Geschichte der Kinder und der Kindheit erforschen? Weil sie bisher wenig erforscht wurde. Weil Kinder die größte Gruppe von Menschen sind, die je existiert hat – viele von ihnen sterben, bevor sie das Erwachsenenalter erreicht haben. Weil Erwachsene Dinge über die Geschichte lernen können, die wir sonst nicht erfahren würden. Weil unser Bild der Geschichte damit präziser wird und ihr näher kommt. Schließlich einfach deshalb, weil es ungerecht ist, wenn Kinder nicht den ihnen zustehenden Anteil an der Geschichtsschreibung bekommen.
Warum sollten wir zu Kindern und Kindheit in der Bibel und ihrer Welt forschen? Weil diese Welt mit ihren altorientalischen und griechisch-römischen Kulturkreisen einschließlich Judentum und formativem Christentum die Grundlage für eine Vielzahl späterer Kulturen bildet, seien sie nun „westlich“, „orientalisch“, „arabisch“ oder anderes. Weil die Bibel im Laufe der Geschichte das Denken und Leben aller möglichen Menschen geprägt hat. Weil sie auch heute noch Wirkungen zeitigt, sogar weltweit. Weil die Bibel immer noch gelesen, interpretiert und benutzt wird, im Guten wie im Schlechten, und von Kindern und Erwachsenen gleichermaßen.
Das Thema Kinder und Kindheit in der Bibel ist seit den späten 1960er Jahren von Interesse, aber die Forschung hat sich seit den 1990er Jahren besonders entwickelt. In diesem Beitrag wird der Schwerpunkt auf dem NT liegen. Es ist jedoch auch notwendig, die Schriften des NT in zwei breiteren Kontexten zu verorten, dem der griechisch-römischen Welt und dem des Alten Testaments und des Judentums des Zweiten Tempels. Die Stellung der Kinder und die Wahrnehmung der Kindheit im Neuen Testament sind stark von diesen Kontexten geprägt und stehen in einer engen Wechselwirkung mit ihnen, und wie die moderne ntl. Forschung im Allgemeinen ist auch diejenige über Kinder und Kindheit durch ihre jeweiligen Forschungskontexte bestimmt.
Im Folgenden gebe ich einen Überblick über wichtige Studien zu diesem Thema, wobei ich sowohl auf bereits eingehender erforschte wie auch auf bisher eher vernachlässigte Bereiche eingehe. Darüber hinaus zeige ich einige Trends auf und zeichne nach, wie diese sich im Laufe der Jahre verändert haben. Mein Ziel ist es, sowohl ein Profil der bisherigen Forschung zu skizzieren als auch einige Möglichkeiten für weitere Studien aufzuzeigen.
1 Allgemeine Trends in der Forschung über Kinder und Kindheit in der Antike
Seit den 1960er Jahren hat die Forschung bestimmte Phasen durchlaufen, Phasen freilich, welche die anderen nicht sukzessive ersetzen, sondern ergänzen.1 Vereinfacht gesagt konzentrierte sich eine frühe Phase auf Aspekte der Bildung von Kindern wie etwa die religiöse Erziehung.2 Eine zweite Phase betonte die sozialen Beziehungen und Netzwerke von Kindern, zum Beispiel mit dem Augenmerk auf soziale Gruppenzugehörigkeit und Abhängigkeit. In neuerer Zeit folgte dann eine Phase, in der Kinder als aktive Subjekte gesehen wurden, als Akteure in ihrem eigenen Leben und im Leben der anderen. Diese Entwicklungen teilt das biblische Feld mit anderen Forschungen über Kinder und Kindheit in der antiken Welt, insbesondere im römischen Kontext; sie sind aber auch in der Forschung zu späteren historischen Perioden zu beobachten.3 Im Verein mit den römischen Studien hat sich die Forschung zum NT und zum frühen Christentum inhaltlich wie methodisch an die Spitze der historischen Erforschung von Kindern und Kindheit gesetzt.
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