Für mich ist danach klar: Von der Staatsschule können sich weder Feministinnen noch Sozialist/innen etwas erhoffen. Vielleicht wäre das anders, wenn wir die Herrschenden wären – doch dass wir es je werden, davor steht die Staatsschule, die die bestehenden Verhältnisse als »Natur« lehrt.
Feministinnen sind gegen Unterdrückung und Hierarchie – wollen wir denn überhaupt den Aufstieg der einen um den Preis des Abstiegs der anderen oder nicht vielmehr eine möglichst egalitäre Gesellschaft, in der jede und jeder gleich wertgeschätzt wird und sich voll entfalten kann – voll, nicht nur in den staatlich verordneten Schulfächern? Nicht nur die Stellung der Frauen ist desto besser, je egalitärer eine Gesellschaft ist: Alle Bürger/innen – arme wie reiche – sind im Schnitt physisch und psychisch gesünder, glücklicher und engagierter (Wilkinson/Pickett 2009).
Feministinnen schätzen Vielfalt. Deshalb brauchen wir nicht Chancengleichheit, sondern Chancenvielfalt; nicht eine Messlatte für alle, sondern echte Bildung, die nicht messbar ist. Es geht uns nicht um Humanressourcen für die Wirtschaft, sondern um selbstbestimmte Menschen, die fähig sind, Kultur und Gesellschaft zu gestalten. Bildung muss wieder als Selbstzweck begriffen und von der Anhäufung vorgegebenen Wissens unterschieden werden. Nicht immer früheren Drill, sondern mehr Muße (schola bedeutete einst Muße) brauchen die Kinder – wie alle.
Feministinnen wollen eine demokratische Gesellschaft, und das bedeutet für uns, dass wir unsere Lebensumstände im Kleinen wie im Großen selbst gestalten. Um diese Erfahrung zu machen, müssen Kinder so früh wie möglich an dieser Gestaltung beteiligt sein. Das ist nur möglich in demokratischen Kindergärten und Schulen, in denen sie autonom bestimmen können, wann sie was auf welche Weise und mit wem tun und lernen, in denen sie sich ihre Regeln selbst geben und die nicht abgeschlossen vom Leben der Erwachsenen, sondern in ihr Lebensumfeld integriert sind.
Feministinnen wollen angesichts des Hungers in der Welt, des drohenden Klimawandels, der ökologischen und der kapitalistischen Krise kürzer arbeiten, weniger und sinnvoller produzieren und konsumieren, dafür mehr gestalten, mehr selbst tun, mehr Muße, mehr Leben ohne Entfremdung. Auf dem Wege dahin können Kinder sich ihren Platz in der Gesellschaft zurückerobern, wenn sie nicht in Institutionen weggesperrt werden.
Feministinnen könnten eine Lernkultur propagieren, wie sie im 19. Jahrhundert in den Arbeiterbildungsvereinen oder heute in demokratischen Schulen oder wo immer Menschen sich gleichberechtigt zusammentun, um zu lernen, gepflegt wurde und wird. Wir wollen die Gesellschaft wieder für die Lernenden – seien sie Kinder oder Erwachsene – öffnen.
In ein nicht-entfremdetes, egalitäres Leben passen selbstverwaltete, kleine Schulen in Nachbarschaften, die vom persönlichen Engagement aller Beteiligten getragen sind. In den Niederlanden sind 70 % der Schulen klein und privat, dabei voll vom Staat finanziert.
Im gelobten Finnland haben von den rund 3180 Gesamtschulen tausend weniger als 50 und ebenfalls tausend zwischen 100 und 300 Schüler/innen. Linke müssen lernen, zwischen Eliteschulen, die ohnehin nicht zu verhindern sind, und selbstorganisierten Nachbarschafts- oder Bürgerschulen zu unterscheiden. Die berechtigte Furcht vor Privatisierung à la Bertelsmann darf uns nicht in die Arme des Staates treiben, in dessen Bildungssystem Bertelsmann längst massiv mitmischt.
»An die Stelle der alten Bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«, schreibt Karl Marx. Daraus möchte ich machen: die freie Entwicklung einer und eines jeden »von Anfang an«.
Bronfenbrenner, Uri (1982): Wie wirksam ist kompensatorische Erziehung, Frankfurt/M.
Freire, Paolo (1981): Der Lehrer ist Politiker und Künstler, Reinbek.
Illich, Ivan (1977): Schulen helfen nicht, 4. Aufl. Reinbek.
Reimer, Everett (1972): Schafft die Schule ab, Reinbek.
Sack, Eduard (1878): Unsere Schulen im Dienste gegen die Freiheit, 2. Aufl., Braunschweig.
Wilkinson, Richard, u. Kate Pickett (2009): Gleichheit ist Glück, Zweitausendeins.
Christel Buchinger
Gries (Pfalz), Deutschland
Christel Buchinger, Diplom-Biologin, aktiv in der feministischen Bundesfrauenarbeitsgemeinschaft LISA der Partei DIE LINKE, in den Bereichen Feminismus und Mentoring tätig.
Veröffentlichung: Humankapital, ein Plädoyer für die ernsthafte Beschäftigung mit einem Phänomen, www.westpfalz-journal.de/Seiten/100politikallgemeinseiten/Buchinger/humankapital.htm.
Fragen an ein linkes feministisches Projekt
Feministinnen oder auch einfach Frauen, die heute in der alten BRD auf Gruppen-, Kreis- oder Landesebene der Partei DIE LINKE Politik machen wollen, sind überrascht über die überall anzutreffende Frauenfeindlichkeit, den offenen Sexismus und Antifeminismus.9 Die Erlebnisse, die wir einander berichten, gleichen sich. Wir erleben eine politische Kultur, die auf Großspurigkeit, Lautstärke und Aggressivität gründet, wir erleben persönliche Anmache, Beleidigungen und Versuche, uns lächerlich zu machen, wir erleben ständiges Übergangenwerden, Unterbrechungen unserer Rede, Abwertungen und das ganze Arsenal von Handlungen und Haltungen, die seit 100 Jahren von Feministinnen angeklagt werden. Die Angriffe sind umso dreister und aggressiver, je mehr es um die Themen Gleichberechtigung, Feminismus, Gender, Quote und allgemein »Frauenthemen« geht. Solche Verhaltensweisen gegenüber Menschen anderer Hautfarbe oder Türken würde sofort den Vorwurf des offenen Rassismus hervorrufen. Gegenüber Frauen ist das alles möglich und wird weithin auch von jenen geduldet, die nicht aktiv an diesem Klima mitwirken.
Nun finden Frauen für diese Verhaltensweisen vielfältige Erklärungen. Sie gelten als Charakterschwächen (»sind halt Machos«), als Ausdruck von Bildungslücken (»er hat es noch nicht verstanden«) und persönlichen Handicaps (»lernresistent« oder drastischer »zu blöd«). Gesehen wird auch, dass sich in einer Partei, in der Mann wegen der Quote an Frauen schlecht vorbeikommt, der Konkurrenzkampf mit all seinen männlichen Schönheiten auch gegen Frauen richtet und oft mit besonderer Wut, denn die Quote wird als Hindernis für das verdiente Fortkommen gesehen.10 Mit der Mutmaßung, solches Verhalten sei insofern interessengeleitet, kommen wir der Wahrheit aber schon nahe. Denn es handelt sich tatsächlich, das ist meine These, um ein Handeln und um Haltungen, die eigenen Gruppeninteressen dienen, wenn auch nicht (nur) denen um Fortkommen innerhalb der Linken.
Um dies zu erklären, muss ich etwas weiter ausholen. Eine verbreitete Erklärung für die Zerstörung des Sozialstaats ist die sogenannte »neoliberale Revolution«. Dabei wird unterstellt, der Sozialstaat hätte bis heute überlebt, wenn diese nicht stattgefunden hätte, man müsse also zur Rettung und Wiederherstellung des Sozialstaats nur die Neoliberalen zurückkämpfen. Dies ist der Gründungskonsens der Partei DIE LINKE. Die Krise des Sozialstaats ist aber nicht nur politischer Willkür gezollt, sondern eine objektive Entwicklung.
Aus den sozialen Kämpfen und Revolutionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind die Zwillingsbrüder Sozialismus und fordistischer Sozialstaat11 hervorgegangen – der eine als Ergebnis der russischen und folgenden Revolutionen, der andere als Versuch, Revolutionen zu verhindern. Mit dem fordistischen Wohlfahrtsstaat modernisierte sich der Kapitalismus selbst. Grundlage war ein recht lange tragfähiger Klassenkompromiss zwischen den stärksten Gruppen des Kapitals – Rüstungs-, Metall-, Fahrzeug-, Elektro-, Energie- und Chemieindustrie – und den dort beschäftigten (männlichen) Arbeitern. Dieser Klassenkompromiss wurde Grundlage der Sozialpolitik. An den Löhnen dieser Kerngruppe des Proletariats orientierten sich die Einkommen aller abhängig Beschäftigten – in der Regel mit Abschlägen.
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