Kontroverse
Kronos als Hüter der Tradition
Was versprechen Sie sich davon, werter Kollege, wenn Sie dem Leser suggerieren, dass sich aus dem Geist dieser Karte nur ein pubertierender Held entwickelt, der seinen Vater töten und seine Mutter vergewaltigen will? Ist es doch der wahre Heldenmut im klassischen Sinn, dem wir hier begegnen und der den Protagonisten beflügelt, in die Welt hinauszuziehen und sich neue Länder zu erobern. Er zeigt, dass wir uns aus vertrautem Umfeld lösen, um eigene Wege zu gehen. Dabei sind Freiheitsdrang, Ehrgeiz oder schlicht unser Geltungsbedürfnis die treibenden Kräfte. Wo immer der Wille zum siegreichen Kampf gegen das Unbekannte herrscht, da kann man sicher sein, den Wagen in einer seiner Erscheinungsformen zu finden. Der Siegeswagen steht aber nicht nur für den Aufbruch der Kräfte und die Flucht nach vorn, sondern auch für die Geschicklichkeit des Wagenlenkers im Halten des inneren und äußeren Gleichgewichts. Er kämpft für das Erbe seiner Väter, Magier und Herrscher , für das Licht, das er zum Erbe seiner Mütter bringen will, in die Bereiche, in denen noch die Dunkelheit des Ungewissen herrscht und wo - auch wenn er nichts davon weiß - bereits das Licht einer ganz anderen Qualität auf ihn wartet. Er macht sich auf, um als Prinz der junge König zu werden, der an der Seite einer noch zu erlösenden Königin das alte Königspaar zu Fall bringen und damit erlösen wird. Durch seine Unschuld besitzt er die unerschütterliche Zuversicht und das Selbstvertrauen in die Richtigkeit der Annahme, er allein wäre der Auserwählte, dem es bestimmt sei, den Schleier dieses Geheimnisses zu lüften und Licht in dieses Dunkel zu bringen. Es gibt wohl keine bessere Darstellung als den Wagen, um die Unbeugsamkeit des Siegeswillens zu veranschaulichen, der sich mit absoluter Sammlung und Konzentration auf das angestrebte Ziel paart. Versuchen Sie diesem Auditorium also bitte nicht einzureden, dass der Held nur für den unreifen Willen eines jungen Menschen steht und sein Widersacher für eine Marionette auf der Bühne des Lebens, vom Schicksal installiert, damit die Szenenabläufe ineinander greifen und sich die verhängnisvolle Entwicklung erfüllen kann!
Ben Hur als Fürsprecher des Krieges
Entschuldigt, gerissener Winkeladvokat und Wortverdreher, wenn ich mich hier klar auf die Seite Eures Kontrahenten stelle, aber mir platzt gleich der Kragen, wenn ich höre, was Ihr da von Euch gebt. Obwohl Ihr männlich seid, scheint Ihr die ganze Zeit verstiegen in Eurem geistigen Dachkämmerlein zu hocken und noch nie einen wahren Krieger getroffen zu haben, denn sonst könntet Ihr nicht so schmählich ignorieren, was einen mutigen Mann wirklich ausmacht! Tapferkeit ist eine Einweihung. Wir leben unser größtes Potenzial - die von Euch angesprochene männlich-aggressive Kraft - und lernen, es zu lenken. Die Fähigkeit, die Pferde zu zügeln, wenn wir den Wagen fahren, macht uns zu mehr als nur zu jugendlichen Heißspornen - sie macht uns zu Herren und Dienern zugleich. So beherrschen wir nicht nur die Kunst, loszuschlagen, um für unsere Ziele zu kämpfen und Gerechtigkeit zu erwirken, sondern wir haben uns zugleich die Fähigkeit antrainiert, uns im Zaum zu halten und nicht ohne Grund wahllos vorzupreschen. Dabei sind wir uns unserer aggressiven Energie durchaus bewusst. Sie ist unsere Stärke, auch wenn sie nicht immer leicht zu kontrollieren ist, aber wir können genauso innehalten und den richtigen Moment abwarten. Wir versuchen uns zu konzentrieren, unsere Kraft zu kontrollieren und in die Richtungen zu lenken, die wir als erstrebenswert erachten. Über das Ringen mit den Polaritäten - Aggression und Defensive, Verteidigung und Angriff - sind wir in der Lage, unsere Mitte zu finden und uns für neue Impulse zu öffnen. Wir sehen auch unsere Defizite und wissen um unsere Ungeduld: Denn wären wir so naiv und zufrieden damit, nur unsere eigenen Projektionen zu bekämpfen, wie Ihr sagt, woher nähmen wir dann den Willen, für eine bessere Welt zu streiten? Zugleich sind wir Diener, denn wir stellen uns bewusst einer höheren Macht als Vollstrecker zur Verfügung. Es gibt keine andere Möglichkeit, unsere Erdenwelt zu gestalten. Sie ist nur dual erfassbar und deshalb auch nur auf diese Weise zu meistern. Für die anderen Welten sind die Priesterinnen und Priester zuständig - das Gebiet von uns Kriegern aber ist die Erdenwelt. Wir dienen den Jungen, die Leitbilder suchen, an denen sie sich orientieren können, wir dienen den Rittern und Fürsten, die Macht zementieren, wir dienen der holden Weiblichkeit, die wir mit unserer Potenz, Kampfkraft und körperlichen Stärke ehren und schützen können, und wir dienen der Menschheit, indem wir neue Wege beschreiten und neues Terrain erschließen. Dabei erleiden wir nicht nur Siege, sondern auch Niederlagen und erlernen dadurch als gute Krieger die besondere Kunst, mit Machtzuwachs und Erfolg ebenso umsichtig umzugehen wie auch, ein Versagen zu verkraften. Das, und nichts anderes, ist das wahre Ziel des Wagens!
Akronos als Advocatus Diaboli
Falsch! Der Wagen wird vom Selbst benutzt, Ihr Herren, nicht um Wünsche oder Ziele des kurzsichtigen Ego zu kreieren, sondern um aus sich heraus materielle Gefäße zu evozieren, in die der Held seine Wege und Ziele »hineinbeabsichtigen« darf. In Wirklichkeit kann der Wagenlenker sein Gespann nur dorthin dirigieren, wo sich die Aufgaben des Unbewussten, die ihm ständig in Form von Reizen und Informationen übermittelt werden, auch erfüllen lassen. Damit das gelingt, darf er natürlich nicht wissen, wohin die Reise geht, denn wüsste er es, könnte er die persönlichen Entscheidungen nicht akzeptieren, die ihm das Unbewusste einfallen lässt. Der Held als handelnde Person spielt die tragende Rolle in einem Stück, das ihm das tiefere Selbst im Glauben einer freien Entscheidung zur Verfügung stellt. Schon auf den alten Tarot-Karten wird der Wagen von zwei Pferden in verschiedene Richtungen gezogen. Dies wurde als Hinweis darauf verstanden, dass es des bewussten Handelns eines Lenkers bedarf, um die Lebenskräfte zu zentrieren und den Wagen auf Ziele hin zu lenken, die dem inneren Streben des Willens entsprechen. Im Grunde ist er nur das ausführende Organ, dem die Gefühle und Empfindungen aufgrund seiner aktuellen Position auf dem Lebensweg zufallen, denn er ist sich aufgrund seines eingeschränkten Horizontes natürlich nicht bewusst genug, um den Schicksalsplan, über den das bewusste innere Selbst verfügt, verstehen zu können.
Der Wagen tritt uns als Krieger entgegen, als männlicher Held. Dabei ist es sein eigentliches Ziel, die bei den Liebenden erfahrene Getrenntheit aufzuheben und die daraus entstandene Sehnsucht nach Wiedervereinigung ihrer Erlösung zuzuführen. Er ist also ein Suchender. Tapfer wagt er sich hinaus in die polare Welt, und weil er sich fürchtet - denn er ist noch jung und unerfahren -, ist er umso angriffslustiger. Nach außen hin wirkt er zwar erwachsen, aber in seinem Inneren muss er noch lernen, diese äußere Erscheinung auszufüllen, denn in vielem entspricht er dem Sohn des Herrschers , der in die Welt aufbricht, um seine eigene Identität zu finden. Oft weiß er gar nicht, dass seine eigentliche Berufung die Suche nach Liebe ist, denn er symbolisiert den Anfang, den Moment, in dem er sich für ein Ziel entscheidet und loszieht, um die Objekte der Anziehung in die Wirklichkeit zu holen. Fast alles, was sich ihm in den Weg stellt, kreiert er zum Feindbild, um sich in der Bekämpfung des anderen besser kennen zu lernen. Zugleich wird er im Kampf die ersehnte Liebe zurückweisen - denn täte er es nicht, dann müsste er seine Gegner als Teil seiner selbst annehmen und seine eigene Handlungsweise ad absurdum führen. So ist er in erster Linie damit beschäftigt, Terrain zu erkunden, Sicherheit im Umgang mit sich selbst zu erlangen und sich den eigenen Ehrenkodex unabhängig von bestehenden Autoritäten zu definieren. Zugleich ist der Wagen damit ein Vorreiter, Späher oder Kundschafter. Die innere Sehnsucht nach Vollständigkeit bringt ihn dazu, als Erster neue Wege zu beschreiten und alte Gesetze und Traditionen hinter sich zu lassen. Damit bietet er sich auch für andere als Projektionsfläche an und nimmt deren Übertragungen auf sich, um seinem Wunsch nach Erlösung Gestalt zu geben. Wir begegnen ihm im täglichen Erleben zum Beispiel in der entschlossenen Kraft, eine Entscheidung gegen alle Widerstände durchzuboxen. Wir finden ihn aber auch in einer übermütigen zielstrebigen Energie, die oft über das Ziel hinausschießt, weil sie nicht weiß, wohin mit der überschüssigen Kraft, und zugleich in den Visionen, die wir von einem besseren Leben haben und für die wir bereit sind, mit der unbeugsamen Absicht unseres Willens zu kämpfen.
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