Die Strukturen und geistigen Konzepte des Herrschers und Hohepriesters haben sich in der Gerechtigkeit so verfeinert, dass sie zu einem detaillierten Gerüst von Recht und Unrecht, Gut und Böse geworden sind, nach dessen dualen Grundpfeilern unsere Gesellschaft ihre Existenz ausrichtet. Der Held, der mit dem Wagen ausgezogen ist, die Welt zu erkunden, entwickelt im Laufe seiner Reise diese zwischen zwei Polen balancierende Sichtweise. Er ist nicht mehr unwissend und unschuldig. Er lernt alles, was ihm entgegentritt, dadurch wahrzunehmen, dass es ihm entweder gleicht oder sich von ihm unterscheidet, und dass alle seine Handlungen Konsequenzen hervorbringen, die er tragen muss. Die Gerechtigkeit entspricht im Alltag unserer Gesetzgebung. Sie symbolisiert, was als richtig oder falsch festgelegt wurde und als überlieferte Prägung in unser Fleisch und Blut übergegangen ist. Auf Grund dessen merken wir oft nicht, dass es sich um eine Konstruktion handelt, die nur Wahrheit wird, weil wir sie als wahr erklären. Doch solange wir unsere Welt hauptsächlich durch ihre Polarität, das Erkennen der Gegensätze, wahrnehmen, übernimmt die Gerechtigkeit eine wichtige Funktion. Sie ist die Kontrollinstanz für extremes Verhalten innerhalb einer Gemeinschaft - und zugleich Gradmesser für unser eigenes Ungleichgewicht. Wenn wir Teile in uns abspalten und uns so durch Handlungen entweder zum Täter oder Opfer machen, ermöglicht sie in vielen Fällen eine Regulierung dieser beiden Extreme. Sie macht den Täter z. B. durch eine Haftstrafe handlungsunfähig und stärkt dadurch das Opfer. Dementsprechend erleben wir sie entweder in uns als eigene Verantwortung oder wir geben sie an eine Instanz im Außen ab, die über uns und unseren (menschlichen) Gegenpart in Form einer Gerichtsverhandlung oder eines Vergleichs Recht spricht. Da die Gerechtigkeit mindestens zwei Seiten beinhaltet, ermöglicht sie es uns auch erstmals, eine Sache aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und so ein genaueres Bild von ihr zu erhalten. Deshalb repräsentiert sie auch die scheinbare Objektivität: die Fähigkeit, eine Angelegenheit von außen wertfrei zu analysieren. Im täglichen Leben begegnen wir ihr natürlich in allem, was mit Recht und Gesetz zusammenhängt. Ebenso aber steht sie für unsere eigene Wertvorstellung davon, was gut und böse, falsch oder richtig ist. So deutet die Karte auf eine Zeit hin, in der es für uns wichtig ist, uns analytisch mit einer Situation auseinanderzusetzen und immer mehrere Sichtweisen einzubeziehen, bevor wir uns nach gründlicher Überlegung für eine Handlungsmöglichkeit entscheiden.
Anwalt oder Richter sind natürlich die Berufe, die wir als erstes mit dieser Karte assoziieren. Aber auch ein Wissenschaftler gehört dazu, denn das neutrale Betrachten und Untersuchen entspricht ebenfalls der Gerechtigkeit. In unserem beruflichen Alltag verleiht sie uns die Fähigkeit, eine schwierige Aufgabe, die wir in Angriff nehmen wollen, vorher zu analysieren, indem wir alle Möglichkeiten und eventuelle Vorgehensweisen darlegen und gegeneinander abwägen. Auf diese Weise können wir die wahrscheinlichste Entwicklung einer Angelegenheit im Voraus abschätzen und uns darüber klar werden, welcher Weg der beste ist. Die Gerechtigkeit kann uns auch bei Streitigkeiten am Arbeitsplatz helfen, einen kühlen Kopf zu bewahren und zu schlichten. Allgemein rät sie uns, unsere Emotionen zu zügeln und eine Angelegenheit zuerst mit unserem Verstand zu beleuchten. Wenn wir dann handeln, gibt sie uns den Rat, die innerhalb der Maßstäbe unserer Gesellschaft gerechteste und fairste Lösung zu suchen. Dies können wir am besten, wenn wir in unserer Mitte sind. Bei persönlichen Angelegenheiten wird unser Gerechtigkeitssinn oft genauso aus unserer Prägung wie aus unserem Gefühl gesteuert. In jedem Falle befinden wir uns beruflich in einer Phase, in der uns Spontaneität, wilde Leidenschaften oder ausufernde Energie nicht weiterhelfen, sondern in der es gilt, bedacht und umsichtig zu handeln.
Auf dem Kopf stehend zeigt sich die Gerechtigkeit zum Beispiel darin, dass wir entweder Opfer einer Ungerechtigkeit geworden sind oder uns in einer beruflichen Angelegenheit verschätzen und uns entgegen besserem Wissen oder unserer inneren Stimme übermäßig emotional, ungerecht oder unehrlich verhalten. Wenn wir bewusst gegen uns selbst oder einen anderen gehandelt haben, suchen wir zumeist unbewusst auch eine Bestrafung. Dies könnte sich dadurch manifestieren, dass wir uns von anderen ins Abseits drängen lassen oder unsere Unehrlichkeit so ungeschickt platzieren, dass unsere unlauteren Absichten vor aller Welt auffliegen. Die Konsequenzen, die daraus entstehen, sind für uns zugleich die Chance, den Konflikt im Außen durchzuspielen und so zumindest als uns zugehörig zu erkennen. Damit erhalten wir die Möglichkeit, unser eigenes, einengendes Gerechtigkeitsmodell zu sprengen und ausgelagerte Persönlichkeitsanteile wieder in unser Wesen zu integrieren. Als allgemeinen Ratschlag zeigt die umgedrehte Karte an, dass Besonnenheit und langes Nachdenken nun nicht mehr hilfreich sind, sondern es im Gegenteil darum geht, den eingefahrenen und erprobten Gerechtigkeitssinn und die intellektuelle Herangehensweise hintenan zu stellen, um spontaner und gefühlsbetonter zu agieren.
Mit den tiefen Gefühlen, die bei Beziehungen im Spiel sind, verträgt sich die kopflastige Gerechtigkeit nicht besonders gut. Im besten Fall kann sie uns ermutigen, uns in heiklen Situationen von unseren Emotionen nicht allzu sehr mitreißen, sondern den Verstand und kluge Einsichten regieren zu lassen. Insgesamt deutet sie aber auf ein Übermaß an Vernunft und Intellekt hin, das unsere Spontaneität und Kreativität begrenzt. Wir leben Liebe und Beziehung durch die Brille von Recht und Unrecht und neigen dazu, alles, was geschieht, zu beschriften und mit den Etiketten versehen in Kategorien einzuordnen. Das bedeutet auch, dass wir den anderen Menschen, statt ihn einfach auf der Gefühlsebene zu erfahren, nur nach unseren Wertmaßstäben beurteilen. Wenn wir in einer funktionierenden Partnerschaft leben, dann schaffen wir dadurch Distanz und ein Ungleichgewicht zwischen Herz und Verstand. Vielleicht unterdrücken wir in unserem Bedürfnis nach Harmonie und Gleichgewicht auch starke Energien. Es gibt aber auch Zeiten, in denen die Gerechtigkeit in einer Beziehung wertvolle Dienste leisten kann. Befindet sich die Verbindung bereits im Ungleichgewicht oder droht zu eskalieren, kann diese Karte uns helfen, die Angelegenheit fair und ruhig von allen Seiten zu betrachten. Bei einem Streit mit unserem Partner oder einem Freund zum Beispiel rät sie uns, nicht allzu gefühlsbetont zu reagieren, sondern in Ruhe beide Seiten anzuhören, um den Streit konstruktiv nutzen zu können. So kann sie uns zu wichtigen Erkenntnissen über uns oder unseren Projektionspunkt führen, die sich wiederum positiv auf unsere Verbindung auswirken.
Die Beziehung ist aus dem Gleichgewicht geraten. Wir verwenden viel Energie darauf, den anderen zu beschuldigen oder von ihm beschuldigt zu werden. Die umgekehrte Karte kann auch anzeigen, dass in einer Angelegenheit, in der es wichtig gewesen wäre, sich ausgleichend und überlegt zu verhalten, wir aus unserem ersten, leidenschaftlichen Gefühl agierten und damit den anderen verletzt oder ungerecht behandelt haben. Die Gerechtigkeit eröffnet uns dann die Möglichkeit, bei jedem Zusammenstoß oder Unrecht zuerst einmal genau hinzusehen, was wir in unseren Verbindungen eigentlich als Recht und Unrecht empfinden und ob wir uns erlauben können, den anderen Menschen an unserer persönlichen Richterskala zu messen. Denn was wir als falsch bezeichnen, kann für ihn genau das Richtige sein. Die Karte rät uns also, zu hinterfragen, ob unser bisheriges Rechtsempfinden innerhalb der Partnerschaft überhaupt noch unserer inneren Wahrheit entspricht. Erscheint die umgedrehte Gerechtigkeit jedoch als Ratschlag, so gilt es, die Vernunft wegzulassen und völlig aus dem Gefühl zu handeln, ohne darüber nachzudenken, was daraus für Konsequenzen entstehen könnten.
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