In Glaubensfragen ist die Gerechtigkeit der verlängerte Arm des Hohepriesters , wie sie auch den verlängerten Arm des Herrschers in der materiellen Welt darstellt. Bei den großen, institutionalisierten Religionen dient sie als wirkungsvolles Mittel, die Glaubensmodelle dieser psychologischen Architekturen zu unterstützen. Das führt oft dazu, dass ein Gott verehrt wird, der die Rolle des Richters übernimmt und als solcher über den Menschen thronend angefleht wird, Gerechtigkeit und Milde walten zu lassen. Wenn wir so glauben und handeln, übergeben wir unser inneres Ungleichgewicht an eine höhere Macht im Außen, von der wir aber gleichzeitig annehmen, dass sie nach unseren Maßstäben handelt und richtet. Dementsprechend können wir Ereignisse, die wir als ungerecht empfinden, nur mit Demut oder Ohnmacht hinnehmen, da diese Macht sich unserem Wirkungskreis entzieht. Die Karte kann in diesem Bereich ein Hinweis darauf sein, dass wir das Tribunal, das uns sagt, was gut und böse ist, ausschließlich in unserer Religion suchen und wir das ganze soziale Gebilde überhaupt zu sehr an den menschlichen Vorstellungen von Ordnung und Unordnung messen. Die Gerechtigkeit kann sich aber auch auf eine vielfältigere Weise entfalten. Auf unserem Weg zu uns selbst kann sie eine Handlungsebene bilden, auf der wir uns in der Kunst der Hinterfragung der gesellschaftlichen Polaritäten üben und dabei die Geheimnisse entdecken können, die sich dahinter verbergen. Dies erschließt uns zuerst einmal die Möglichkeit, uns der Gegensätzlichkeit, in der wir unser Erdenleben verbringen, bewusst zu werden und zu erkennen, dass sie ein Weg der Wahrnehmung ist, der keinen endgültigen Wahrheitsanspruch hat. Wir können uns damit auseinandersetzen, inwieweit dieses Empfinden von unserer Gesellschaft geprägt wurde oder anderen Quellen entspringt. Dies bedeutet auch, dass wir bei Menschen, denen wir begegnen, trainieren können, ihren Standpunkt als eine weitere Facette unserer eigenen Persönlichkeit anzuerkennen, besonders dann, wenn wir auf diesen Standpunkt heftig reagieren. Wir beschäftigen uns damit, was Illusion für uns ist und ob wir sie ausgleichen können, wenn wir sie mit dem genauen Gegenteil unserer Vorstellung verschmelzen. Wir können uns damit auseinandersetzen, was für Konsequenzen unser Tun hat und wie wir über die Polarität hinausgelangen können. Auf einer alltäglicheren Ebene bedeutet die Karte, dass wir um inneren Ausgleich bemüht sind und das Thema Religion, Spiritualität und Magie intellektuell angehen - vielleicht, indem wir die verschiedensten Wege miteinander vergleichen und abwägen. Möglicherweise behindern wir damit aber auch unsere Intuition, die uns den Weg weisen könnte und ein inneres, kreatives Chaos, das wir zum spirituellen Wachstum brauchen, an ihrer Entfaltung.
Bewegen wir uns in einem Glaubenssystem, in dem wir die Funktion des Richters auf einen Gott übertragen, dann zeigt die umgedrehte Gerechtigkeit an, dass wir an einem Punkt angekommen sind, an dem wir mit den dualen Glaubenssätzen nicht mehr klarkommen. Wir wehren uns gegen dieses fremdbestimmte Gerechtigkeitsgefüge. Die Umkehrung der Karte kann also heißen, dass sich unsere Glaubenswelt auf den Kopf stellt, der Bauch die Regentschaft übernimmt und an Stelle von Vernunft, Ordnung und Ausgleich heftige Gefühle hervorbrechen. Wie wir uns auch bewegen, wir fallen aus dem Gleichgewicht, mit dem wir die Pole von Recht und Unrecht ausbalancieren. Dies kann ein Segen sein, wenn wir zuvor zu kontrolliert gehandelt haben, denn dann zwingt uns das Schicksal, unseren spirituellen Weg auch ohne festen Plan oder Modell, an dem wir uns orientieren können, zu finden.
IX Der Eremit
Sammlung, Erkenntnis, Selbstfindung
Während der Hohepriester dem Selbst ein göttliches Urbild von sich selbst bereitstellt, ist der Eremit das Bild des selbstlosen Dieners des Selbst - also des auf der Stufenleiter der Evolution nach oben drängenden Ichs, das die göttliche Wahrheit zu erkennen sucht und sich ihrem Bilde selbst anzunähern bestrebt ist. Zuerst sucht er dort, wo er die Wahrheit vermutet, und dabei vermutet er die Wahrheit dort, wo er sie sucht. Und weil er sie irgendwie immer dort findet, wo er sucht, sucht er sie immer dort, wo er sie vermutet, und damit findet er immer das, was er vermutet, nämlich die Wahrheit nach dem Bild seiner inneren Vorstellung . Damit hält er die Wahrheit vor sich selbst auf Distanz, denn der Sinn der Wahrheit liegt weniger darin, sie zu erkennen, sondern vielmehr in der Beantwortung der Frage, warum er sie überhaupt suchen muss. Dennoch ist dieses Konstrukt seines Bewusstseins sein einziges Instrument, um die Welt wahrzunehmen, zu begreifen und mit seinem Handeln zu beglücken. Die Frage, ob es eine Wahrheit gibt, wird erst dann wirklich zur sinnvollen Frage, wenn wir die unbewusste Strategie des Eremiten erkennen: die Wahrheit so tief in unserer inneren Natur zu verankern, bis wir es aufgeben, dieFrage nach der äußeren Wahrheit zu stellen, weil wir die Wahrheit der Frage nach der Wahrheit in der Antwort auf die Frage Wer bin ich? erfahren.
Baphomet — Tarot der Unterwelt
Der Eremit steht für die Fähigkeit des Menschen, das Spektrum seiner Sicht so zu erweitern, dass er neben den äußeren Erscheinungen auch die Grundlage sieht, warum er sieht, was er sieht. Dadurch löst er sich aus dem kollektiven Netzwerk des Denkens, weil er sich seinem eigenen Erkennen plötzlich als einer abgespaltenen Teilpersönlichkeit gegenübersieht. Sie gibt sich ihm als der Geist seines eigenen Erkennens zu erkennen und suggeriert ihm, dass sich ihm alles nur so darstellt, damit er sich in seinem eigenen Denken ergründen kann. Wenn er aber wirklich erkennen würde, resümiert der Weise, dass alles eine Illusion ist, was könnte er dann für Erfahrungen machen? Er könne die ganze Welt bereisen, die er sich aus den kollektiven Illusionen erschaffe, erwidert ihm der Geist, wenn er sich nicht in den Panzer seiner eigenen Erkenntnisse einschließe und sich durch die Illusionen seiner eigenen Erkenntnisse hindurchfallen ließe. Manche verfielen ihm, dem Geist, denn sie wären hingerissen von der Kreativität ihrer Einfälle und glaubten, die Grundlage ihres Erkennens läge in ihrer eigenen Natur; andere klebten so sehr an den Visionen ihres Erkennens, dass sie den Kontakt mit den Menschen verlören und sich nur noch im Geflecht ihrer eigenen Hirngespinste bewegten.
Was zeigt uns das Bild? Es zeigt eine von der Außenwelt abgekapselte, völlig in sich versunkene Gestalt. Wie eine Holzskulptur ist sie bewegungslos in sich erstarrt und hält sich eng umschlungen selbst im Arm. Sie sitzt auf ihrem eigenen Bild, das sie durch ihr Bewusstsein innerhalb der dreidimensionalen Wirklichkeit in die Welt hineingedacht hat; gleichzeitig sitzt ihr der eigene Schatten im Genick. Deshalb ist der Eremit aus spiritueller Sicht auch der Gefangene seines eigenen Geists, den er dazu benutzt, den abgespaltenen Teil seines eigenen Erkennens bei sich selbst zu verdrängen, weil er die ganze Welt einschließlich seiner selbst durch sein eigenes Wissensbild hindurch kontrollieren will. Was aber ist das Bild der Erkenntnis, das sich vor sich selbst versteckt, solange es sich (im Bild des Eremiten) nicht zur Seite schiebt und damit in die Urquelle des Denkens blickt, in dem ihm plötzlich das Gedachte mit seinen eigenen Augen entgegenblickt? Es ist das Bild des Erkennenden, der sich in seinen eigenen Denkmustern selbst erfahrt! Technisch betrachtet steht der Eremit für die kollektive Erkenntnis, und wenn er sich in sein Wissen versenkt, dann trifft er notgedrungen auf die Wahrnehmungsgefäße, die sich die Menschheit für ihre Entwicklung ausgebildet hat.
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