Im Gegensatz zur aufrechten Karte wird der Moralapostel hier zum »freien Radikalen«. Vielleicht haben wir es satt, uns ewig den gesellschaftlich herrschenden Moralvorstellungen unterzuordnen, und entwickeln unsere ganz eigenen Ideen darüber, wie Verbindungen zu anderen Menschen - besonders die Liebesbeziehungen - auszusehen haben. So leben wir sehr unorthodoxe Beziehungsmodelle, mit denen wir bei konservativen Zeitgenossen zuweilen heftig anecken. In der Umkehrung dieser Karte sind wir auch wesentlich aufgeschlossener für sinnliche Genüsse als in der aufrechten Position. Es kann auch sein, dass wir der Fleischlichkeit plötzlich große Wichtigkeit beimessen - sie sozusagen zu unserer neuen Religion erheben. In bestehenden Verbindungen erstaunen wir vielleicht unsere Freunde oder den Partner mit einer neuen, revolutionären Idee darüber, wie die Beziehung zukünftig zu gestalten wäre, oder wir denken darüber nach, ob die Partnerschaft noch Sinn macht, weil wir mit den Vorstellungen des anderen nicht mehr konform sind.
So wie die Hohepriesterin oder Herrscherin eine matriarchalische Religionsausübung symbolisiert, so steht der Hohepriester für alle hierarchisch und patriarchalisch strukturierten Glaubensinhalte. Während der Herrscherin Schamanismus und Hexenlehre zugeordnet sind, umfasst der Archetyp des Hohepriesters philosophische Sinnkonzepte ebenso wie alle großen zeitgenössischen Religionen oder einen streng gegliederten magischen Orden, dessen Mitglieder festen Gesetzen folgen. Strukturen und weltliches Gerüst hat der Herrscher erschaffen, doch der Hohepriester füllt das Ganze erst mit Inhalt und Sinn. Deshalb ist uns im täglichen Leben unser Glaube sehr wichtig und die Lehre wird je nach Art der von uns bevorzugten Bekenntnisse für uns zur unumstößlichen Wahrheit. Lebenshalt und Sicherheit beziehen wir aus dem Umstand, dass wir uns der Weltanschauung eines solchen Modells bedingungslos unterordnen. Wirkliche Spiritualität oder Magie können wir auf diese Weise natürlich nicht leben, denn alles, was seinen ureigensten Weg ohne geistige Leitschienen direkt aus uns findet, verunsichert und beunruhigt den Hohepriester. Schließlich repräsentiert er die Suche nach der Suche , die wir mit geistigen Konzepten füllen, und wo immer es um Glaubensfragen geht, ist auch die Inquisition nicht weit. So kann die Angst, die wir vor fremden Religionen oder anderen Sichtweisen entwickeln, so weit gehen, dass wir andere Menschen für ihre Vorstellungen verurteilen, bekämpfen oder gar quälen.
Der umgekehrte Hohepriester wehrt sich vehement gegen alles Festgefahrene. Er ist ein Umstürzler traditioneller Glaubensinhalte. Möglicherweise erleben wir unter dem Einfluss dieser Karte eine Zeit, in der unser altes Weltgebäude komplett zusammenbricht. Wir können das, was wir zuvor für die Wahrheit hielten, nicht mehr ernst nehmen. Wir suchen nach Ersatz und bauen uns eine neue, eigene Sicht, die wir dann ebenso zur alleinigen Wahrheit küren, wie es die Religionen tun, von denen wir uns abgewandt haben. Deshalb findet keine wirkliche Befreiung statt. Wir haben den verkrusteten, überholten Glaubensstrukturen zwar den Rücken gekehrt, aber die Gegenposition bezogen und sind daher nicht wirklich erlöst von den alten Vorstellungen. Der auf dem Kopf stehende Hohepriester kann somit auch als Aufforderung angesehen werden, sich dies einzugestehen und sich selbst im »Verkehrten« wieder umzudrehen.
VI Die Liebenden
Anziehung, Zuneigung, Vereinigung
Im ewigen Schöpfungsplan, der die Vorgänge in der Natur steuert und für die Erhaltung der Arten sorgt, liegt der Drang nach Einswerdung der Geschöpfe in der Liebe, denn die Liebenden drücken die Anziehung der Gegensätze aus, die Flammen der Sehnsucht zwischen Mann und Frau, um die verlorene Einheit wiederherzustellen: den Zustand vor der Vertreibung aus dem Paradies. Die Karte symbolisiert damit den paradiesischen Vorhof des leiblichen Verlangens: die verschlingende Hingabe, die zum Numinosum wird, indem sie das verlorene Gefühl der Ganzheit durch das Empfinden der Vereinigung wieder zu erreichen verspricht. Wenn die Karte Lust der Geschlechtsakt ist, dann sind die Liebenden der Kuss: die erste, vorsichtige Öffnung dem anderen gegenüber, gleichsam als seelische Eintrittskarte in das Körperinnere, aber auch die höllischen Zungenküsse, jene Elixiere des Teufels, die in den uterinen Höhlen und tiefen Wassertümpeln gründeln und ihre Opfer porentief einsaugen.
Baphomet — Tarot der Unterwelt
Der Trieb ist unsere gemeinsame Plattform, auf der wir Kontakt zu anderen Personen auf der Ebene sexueller Anziehung pflegen, und die Liebenden verbinden das, was wir sind, mit dem, was andere sind. Obwohl man diese Energie oft für Liebe hält, muss man sie als bloße Verkörperung von Liebe interpretieren, denn was sie verkörpert, dient der Verführung durch die Mittel der Erotik, um die körperlichen Reize ins richtige Licht zu stellen. Als Liebe bezeichnet diese Karte die Kraft, die durch die Glut der Ausrichtung genau an die Stelle gerichtet wird, an der auf der anderen Seite der Wunsch nach Zuneigung fixiert ist. Das symbolisieren Adam und Lilith, die hinter einem von oben herabhängenden, hin und her schwingenden Pendel als Symbol einer Liebesschaukel miteinander kommunizieren. Sie tun zwar alles für ihre Vorstellung von Liebe (sie sind über eine gemeinsame Plattform miteinander verbunden), doch ihre Arme zeigen in ganz verschiedene Richtungen. Das bedeutet, dass die Anziehung nicht persönlich ausgerichtet ist, auch wenn es durch die Sicht des Individuums so erscheint, sondern dass sie das Benzin von der Tankstelle der Schöpfung darstellt, das in unseren Adern kreist und den Motor der Sexualität antreibt, der die Vorgänge in der Natur steuert und die Materie verändert. Das wird auch durch den großen Fisch in der Mitte unterstrichen; er ist ein Symbol für Fruchtbarkeit. Alle Gegensätze ziehen sich unwiderstehlich an, und die Liebenden zaubern aus dem bodenlosen Hut sexueller Anziehung die für den Zeitpunkt geeigneten Schwingungsmuster, auf deren Frequenz sich die Menschen zum Akt der Fortpflanzung (Karte XI) gegenseitig ansaugen.
In der Sehnsucht nach der großen Liebe liegt der Wunsch nach der endgültigen Heimat oder der Rückkehr ins Paradies. Mit offenem Herzen hält der Suchende Ausschau nach einem Partner, doch keiner hat je den Schmerz der Trennung geheilt. Die Liebe seiner Umwelt allein kann ihn nicht wieder zu einem Ganzen machen, denn das, was ihm fehlt, ist das ungebrochene Licht, das in der materiellen Welt durch die vielen Aufsplitterungen der Einheit in zahlreiche Facetten gebrochen worden ist. Die Brechungen dieser Sehnsucht erzeugen Regenbogenfarben, die als Spektrallichter zwar nicht die lichte Vollständigkeit, jedoch zumindest die schönsten Blüten menschlicher Emotionen hervorbringen können. Im schöpferischen Akt finden die starken Gefühle der Seele in Geschichten ihren Ausdruck, die Liebe bezeugen, oder in Liedern, in denen der Schmerz besungen wird. Durch hoffnungsvolle Versuche, die Trennungen zu überwinden, sind die besten Bilder entstanden, und das verzweifelte Untergehen nicht erfüllter Sehnsüchte treibt Millionen von Menschenseelen die Tränen in die Augen, wenn sie die entsprechenden (Liebes-)Filme sehen. Alle Versuche, im anderen die Erfüllung des Lebens zu finden, sind in mancher Hinsicht nur Verlängerungen der menschlichen Illusion, die glaubt, in der Hingabe das Paradies wiederzufinden - aber immerhin! Auch jede persönliche Liebesübertragung verdient Respekt, gerade weil sie aus der Sicht göttlicher Zuneigung nur die infantile Form des menschlichen Miteinanders darstellt: Oder wer könnte von sich schon behaupten, dass er nicht auch immer wieder nach der Befriedigung kindlicher Bedürfnisse Ausschau hält? Zwar verfügt die Liebeskraft eines jeden Menschen über genügend Energie, sich mit Gott und Teufel zu vermählen, doch liegt es in der Dynamik der Entwicklung, dass die universale Liebe nur in Märchen und Überlieferungen zum Ausdruck kommen kann. Der Teil der Anziehung, den wir durch die Brille der Liebe in den anderen hineinprojizieren, ist die Straße, auf der wir das Gefühl von Nähe im anderen bereisen: Doch solange wir uns nur auf unsere körperlich-emotionale Übertragung beschränken, ist der Kontakt mit dem Spirituellen nicht möglich (die Bedeutung, die wir dem beimessen, was wir in den anderen projizieren, ist unsere eigene Magie). So ist der zarte Kuss der Liebenden als Vorbote des Wunsches nach Vereinigung ein Zeichen dafür, dass der andere bei einem bleiben soll. Und gleichzeitig ist das Ganze der Anfang des Schmerzes, der aus der Täuschung entsteht, dass das Objekt der Anziehung die angestrebte Liebe in sich birgt. Denn in jeder Projektion liegt die Enttäuschung verborgen, und am Ende ist jeder wieder allein, solange der Fokus der Aufmerksamkeit im Außen verharrt. Wenn es nichts mehr gibt, von dem wir uns anziehen lassen können, dann gibt es nichts mehr, wofür es sich zu sterben lohnt. Doch die wahre Vereinigung zwischen zwei Menschenseelen geschieht im Brennpunkt ihrer Sehnsucht nach sich selbst. Im spirituellen Erkennen, dass der Liebende geliebt wird, weil die Liebe ihm antwortet bzw. auf ihn anspricht, liegt die Quelle der warmen Wasser, in deren emotionalen Spiegelungen die reifen Seelen ihre Projektionen zurücknehmen können.
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