Aus osteopathischer Sicht befassen wir uns beim Behandeln von Fieber mit Leben, das den Existenzkampf und die vitalen Prozesse mit einschließt. Bei Temperaturerhöhung erfolgt ein rapider Schwund an Gewebesubstanz. Dies stört das Gleichgewicht der Funktionen – und nahezu alles kann diese Störung in Form von Unordnung, Krankheit, Gift, Blutstagnation usf. auslösen. Diese Funktionsstörung wird durch das Nervensystem zu den Gehirnzentren kommuniziert, denn alle vitalen Zentren befinden sich nahe beieinander und in Verbindung miteinander. Sobald das Gleichgewicht dieser Zentren aufgrund der Toxine im Blut kippt, werden die Zentren irritiert, woraus dann u. a. das Herz, den Puls und die Atmung betreffende Phänomene folgen. Wie sollen wir diesen Zustand beheben? Suchen Sie nach der primären Ursache über die Bestimmung der Fiebertypen. Versuchen Sie, die Produktion der toxischen Elemente einzuschränken, die das Blut vergiften und die anomale Aktivität der vitalen Zentren verursachen. Stellen Sie im betroffenen Bereich die normalen nutritiven Zustände wieder her, indem Sie die Knochen-, Muskel-, Nerven- und Blutbeschaffenheit so anpassen, dass sie wieder zur angemessenen Ernährung des betroffenen Teils beitragen. Halten Sie die ständige Zirkulation reinen Blutes aufrecht – und damit ist nicht nur das arterielle, sondern auch das venöse Blut gemeint, denn wenn das venöse Blut rein und normal ist, kann beispielsweise der Diphtheriebazillus nicht in ihm gedeihen. Die spezielle Anwendung dieser allgemeinen Punkte auf die Fiebertypen ist einfach, sobald eine physische Diagnose der Fieberursache erstellt wurde.
Wir fassen zusammen, dass eine erhöhte Temperatur physiologisch ist. Hinter dieser Fiebertemperatur finden wir eine Kette von Zuständen: Irritation der Nervenzentren, toxische Elemente, Blutstauung, Bakterien, Traumata oder Läsionen. Beim Versuch, die fiebrige Störung zu behandeln, die stets mehr oder weniger weit über den Organismus verbreitet ist, müssen wir die Läsionen entfernen, das Traumata heilen, die Bakterien töten, ihren Produkten entgegenwirken und auf diese Weise das Element des Missklangs eliminieren, das in die Nervenökonomie des Friedens, der Koordination und der Harmonie eingebrochen ist. Am erfolgreichsten kann dies die Osteopathie vollbringen.
ABB. 14: FAKULTÄT DER A.S.O. (1899)
Der wohl berühmteste Fakultätsjahrgang in der Geschichte der Osteopathie. In der oberen Hälfte finden Sie die nicht-akademischen Anhänger Stills ,reiner Lehre‘, die sogenannten lesionists , allen voran mit Arthur Hildreth (oben, 2. v.r.) und Stills Söhne Herman und Harry (2. Reihe) und in der unteren Hälfte sieht man die Akademiker, angeführt von John Martin Littlejohn (untere Reihe, 2. v.l.), seinen beiden Brüdern (unten, 2. v.r. und vorletzte Reihe rechts) und dem Arzt William Smith (vorletzte Reihe, links). Die Akademiker vertraten die Ansicht, dass die Osteopathie sich auch anderen Methoden öffnen müsse, solange sie den osteopathischen Prinzipien entsprächen, und wurden daher broadists genannt. Der Streit eskalierte, als John Martin Littlejohn zum Präsidenten der A.S.O. gewählt wurde. Schon bald darauf verließen die Littlejohns Kirksville im Jahre 1900 und gründeten das Chicago School of Osteopathy . A. T. Still hielt sich aus diesem Streit heraus und zwischen ihm und Littlejohn gab es in jener Zeit auch keine nachweisbaren Differenzen. Beide gingen stets respektvoll miteinander um.
B. Die Zeit in Chicago (1900–1912)
CHICAGO SCHOOL OF OSTEOPATHY
ABB. B: THE JOURNAL OF SCIENCE OF OSTEOPATHY (CHICAGO)
8. OSTEOPATHIE ALS SCHULE DER MEDIZIN
The Journal of the Science of Osteopathy (1) , 1900, S. 53–58.
Dr. George F. Shrady im Medical Record , New York, eine ganze Reihe von Leitartikeln über die Osteopathie geschrieben. Offenbar durchläuft dieses Thema in seinem Geist die Stadien der Evolution. Es fängt damit an, dass die Osteopathie „[…] ein Mischmasch aus Unsinn“ gewesen sei. Dann wurde sie zu Massage und jetzt gilt sie als voll ausgereifte Praktik der Medizin. Dieser Positionswechsel wird allerdings nur vorgenommen, um sich gegen die Osteopathie zu stellen und sie zu bekämpfen: Betrug, Scharlatanerie, Unwissenheit und Dummheit scheinen bei der Beschreibung Synonyme für diese neue Entwicklung zu sein.
In der Hauptsache teilen wir Dr. Shradys Einschätzung der osteopathischen Position, wobei wir allerdings seine als verächtliche Beiwörter verwendeten Adjektive und Substantive eliminieren.
„Ein Osteopath gibt vor, durch manuelle Mittel viele Arten von Krankheit zu diagnostizieren und zu behandeln, und unterwirft sich nicht der Beschränkung, unter jemand anderem zu arbeiten.“
Der Masseur praktiziert unter der Leitung und unter dem moralischen und rechtlichen Patronat eines regulären Arztes. Und Dr. Shrady scheint der Meinung zu sein, der Osteopath solle es auch so halten. Er glaubt offensichtlich, das Praktizieren von Medizin bestehe
„[…] im Aufstellen einer Diagnose und im Verschreiben einer Behandlung.“ Und weiter: „Wir sollten auf jeden Fall sicherzustellen versuchen, dass jeder, der vorgibt, auf seine eigene Verantwortung und Initiative hin einen Kranken oder Verletzten auf irgendeine Weise zu behandeln oder ihm etwas zu verschreiben, dazu gezwungen wird, einen bestimmten Wissensstandard in Fächern wie Anatomie, Physiologie und Geburtshilfe zu erreichen, welches Therapiesystem er auch immer vertritt.“
So sieht es das Gesetz in Illinois vor, das zwischen Behandlung mit und ohne innere Medikation unterscheidet. Es geht aber noch nicht weit genug. Obgleich es anerkennt, dass Krankheiten auch mit einer nicht-medikamentösen Methode geheilt werden können, diskriminiert es zugunsten der Medikamentenmethode. Wir halten das für illegal bzw. für verfassungswidrig. Beseitigen Sie diesen Fehler, und das Gesetz von Illinois ist perfekt.
Dr. Shrady konzediert offensichtlich, dass es verschiedene therapeutische Systeme geben kann. Dies gesteht auch die Osteopathie zu. Ihr Ziel ist es nicht, dass Allopathen oder Homöopathen per Gesetz aus geschlossen, sondern vielmehr dass Osteopathen per Gesetz ein geschlossen werden. Das osteopathische System ist unabhängig und unverwechselbar. Wie schon unsere Definition verdeutlicht, schließt die osteopathische Schule alles ein, was gemeinhin auch zum Praktizieren von Medizin gehört, nämlich Diagnose, Therapie und Chirurgie. 74Und diese bilden zusammen die drei Faktoren eines neuen und eigenständigen Heilungssystems. Was erbeten wird, ist ein freies und offenes Feld mit dem gleichen Qualifikationsstandard wie die anderen Schulen der Medizin und Chirurgie. Das Gesetz von Illinois macht die Osteopathie aber zu einer Unterabteilung der Medizin, wie es etwa auch Medikamententherapie und Geburtshilfepraxis sind, und das ist es mit Sicherheit nicht, was wir als unser verfassungsmäßiges Recht einfordern. Die Verfassung der verschiedenen Staaten garantiert, dass es keinerlei Diskriminierung unter den verschiedenen Schulen oder Systemen des Heilens geben darf. Wir hoffen, dass Dr. Shrady bei dem Versuch mithelfen wird, dieses Ergebnis zu erreichen, das nicht mehr ist als das nackte Minimum an Gerechtigkeit. Es wird keinerlei Vergünstigung erbeten, sondern einfach nur das, was rechtens ist. Die Wissenschaft wird nicht untergehen.
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