Ist Fieber physiologisch oder pathologisch? Es ist pathologisch , weil es die Summe einer Reihe von Zuständen darstellt, die erhöhte Temperatur, verstärkte Gewebedesintegration, beschleunigte Herztätigkeit oder verstärkte arterielle und sekretorische Aktivität mit einschließen. Miteinander kombiniert, bilden sie jene Summe an Kräften, die einer Integrität des Lebens und der vitalen Körperprozesse entgegenwirkt.
Im Lichte der Entdeckung thermogener und thermolytischer Zentren erscheint Fieber als pathologische Folge einer Reihe primärer und sekundärer Ursachen. Dazu gehören als primäre Ursachen u. a. Läsionen, Traumata, Behinderungen und als sekundäre Ursachen aktive Bakterien und ihre Produkte, wobei die giftige Substanz die Zentren zu vermehrter Aktivität stimuliert. 72Die Ergebnisse sind u. a. erhöhte Temperatur, beschleunigter Herzschlag, beschleunigte Atmung und beschleunigter Stoffwechsel. Experimente haben gezeigt, dass bakterielle Produkte künstlich Fieber erzeugen, wenn Gehirn und Rückenmark intakt bleiben. Ist dagegen das Gehirn hingegen abgetrennt, findet keine derartige künstliche Produktion statt. Bei künstlich hervorgerufenem Fieber zeigt sich sogar dann eine markante Erhöhung des respiratorischen Austausches von Sauerstoff und Kohlendioxid, wenn Anstrengungen unternommen werden, die Temperatur zu kontrollieren. Dies scheint zu beweisen, dass verstärkte Stoffwechselaktivität eines der Hauptphänomene bei Fieberzuständen bezeichnet.
Offenbar ist die erhöhte Temperatur also kein primärer Faktor im pathologischen Fieberzustand, sondern ein Symptom des verstärkten Stoffwechsels. Als solche repräsentiert sie den Versuch des Wärmeregulationsmechanismus, sich selbst zu schützen. Die Zunahme an Wärme entsteht dabei eher als ein Heilmittel, um die Bakterien oder ihre Produkte zu zerstören. Die günstigste Temperatur für die Keimentwicklung liegt etwas oberhalb der Körpertemperatur, bei 37,5° Celsius. Das Wachstum von Diphtherie- und Typhusfieberbazillen verzögert sich, sobald die Temperatur 38° Celsius übersteigt. Im Typhuskeim ist bei dieser Temperatur die Fermentation von Zuckersubstanzen unmöglich. Der Varizellen-Zoster-Keim kann durch den Einfluss einer Wärme von mehr als 39,4° Celsius zerstört werden. Pneumokokken schwächt eine Temperatur von 41° Celsius. In diesen Fällen stellt die Temperaturerhöhung also einen physiologischen Zustand oder den Versuch der Natur dar, sich gegen die Keimwirkung zu immunisieren.
Klemperer zufolge dient die erhöhte Temperatur aber noch einem anderen Zweck. Die Produkte der Bakterien oder der bakteriellen Aktivität haben auf die Gewebe einen immunisierenden Einfluss, der sich bei einer Temperatur von 40,5° Celsius verstärkt. In einer Reihe von Experimenten wurde das Serum von Tieren, die man durch künstliche Mittel immunisiert hatte, anderen Tieren mit einer Temperatur von 41° Celsius injiziert mit dem Ergebnis, dass die Temperatur innerhalb von 24 Stunden auf 37,5° Celsius sank. Demzufolge stellt die Pneumoniekrise jenen Punkt dar, an dem sich die von den Pneumokokken produzierten Toxine in solchen Mengen im Blutkreislauf befinden, dass sie in den Geweben Reaktionsprozesse auslösen, die ihrerseits genug antitoxische Stoffe erzeugen, um der Aktivität der Giftsubstanzen entgegenwirken zu können. Das Pneumotoxin oder das bakterielle Produkt ist die Ursache der Krankheit 73und erzeugt die erhöhte Temperatur. Das Antitoxin in Form einer in den Zellen gebildeten Proteinverbindung löst die Gegenwirkung gegen die Krankheit und die Reaktion zugunsten der Zerstörung der Pneumokokken aus. Dies zeigt, wie mir scheint, sehr deutlich, dass es möglich ist, durch reaktive, in den Gewebezellen – seien es nun Leukozyten oder tatsächliche Gewebezellen – bewirkte Veränderungen Immunität im Körpergewebe aufzubauen. In diesem Existenzkampf zwischen Bazillen und Gewebezellen wird die Produktion reaktiver Veränderungen, dank derer die Gewebezellen Proteine generieren, die wiederum die bakteriellen Gifte zerstören können, offenbar entscheidend von der Temperatur beeinflusst. Hier scheinen sich im Blutplasma bestimmte Substanzen zu befinden, welche die Bakterien, wenn sie mit ihnen in Kontakt kommen, lethargisch machen und in Verbindung mit den Produkten der Bakterien die von den Bazillen hervorgebrachten giftigen Substanzen neutralisieren.
Gelingt es der osteopathischen Behandlung, diese Aktivitäten durch das Nervensystem und das Blut zu stimulieren, während die erhöhte Temperatur ihre Rolle im Heilungsprozess der Natur spielt, haben wir gewiss ein mächtiges therapeutisches Mittel, um Fieberzuständen zu begegnen. In diesem Zustand besteht die wahre osteopathische Therapie in dem Versuch, die normale regulierende Funktion des thermotaktischen Mechanismus durch das Gehirn und die spinalen Zentren sowie über die Blutzufuhr und die Zirkulation wiederherzustellen. Sofern unsere Feststellungen physiologisch korrekt sind, ist die Behandlung im zervikalen Bereich zum Zwecke der Temperatursenkung die geeignete Vorgehensweise, insofern wir es lediglich mit erhöhter Temperatur zu tun haben. Handelt es sich dagegen um einen Fieberzustand, ist diese Methode kontraindiziert – es sei denn, sie dient nur als Hilfsmittel, um bei der Regulierung der Vasomotion zu unterstützen oder die Temperatur unter dem Gefahrenpunkt zu halten. Die Wärmezentren befinden sich im zervikalen Bereich und in der Medulla oblongata sowie in den basalen Anteilen des Gehirns. Der Versuch, sie direkt zu beeinflussen, hieße einen symptomatischen Zustand behandeln, während die Ursache – die jeweils vom Fiebertyp abhängt – unberührt bleibt.
Aus therapeutischer Sicht muss die Behandlung folgendermaßen aussehen: Beseitigung der Ursache oder der Ursachen sowie Erleichterung und Reduktion des Fieberzustandes in kontrollierbare Grenzen durch Regulation von Temperatur, Vasomotion, Zirkulation usf. Die Praxis der Medizin und der Osteopathie neigen dazu, sich lediglich mit Letzterem zu befassen. Zu den alten Praktiken der Medizin gehörte es, den Aderlass anzuwenden, um die Temperatur zu senken. Später nahm man dann zu purgativen, diaphoretischen und diuretischen Mitteln Zuflucht, um den vermehrten Abfall zu entfernen und die freie Gewebetätigkeit zu unterstützen – vor allem die Transpiration der Hautund Oberflächengewebe. Man führte Kaltwasseranwendungen durch, indem man den Patienten mehrmals in ein kaltes Bad setzte, um dem Körper Wärme zu entziehen und dadurch die Temperatur zu senken. Manche applizierten Alkohol in der Absicht, die Wärmeabstrahlung vom Körper zu fördern. Andere wiederum haben die Transpiration stimuliert, um die Schweißmenge zu erhöhen und auf diese Weise Wärme durch Verdampfung abzutransportieren.
Bei der Wirkung fiebersenkender Medikamente stellen wir Variationen fest. Chinin verwendete man in großen Dosen, um die erhöhte Temperatur zu blockieren. Es beeinflusst direkt die wärmeproduzierenden Gewebe. Eisenhut wurde benutzt, um die Fiebertemperatur aufgrund seiner sedierenden Wirkung auf die Zirkulation zu blockieren und auf diese Weise dem Fieber entgegenzuwirken. Eisenhut nützt aber nichts und erweist sich im Gegenteil bei Fällen wie Pneumonie, wo eine Krise zu erwarten ist, sogar als kontraindiziert, weil er dem, was die medikamentöse Behandlungsmethode hauptsächlich bezweckt – nämlich Aufrechterhaltung der Konstitution und Unterstützung der physischen Kraft, bis die Krise sich nähert – entgegenwirkt. Die therapeutische Wirkung von Eisenhut soll angeblich direkt auf den Herzmuskel zielen und so den Blutdruck senken, sowie auf die Respirationsmuskeln und dadurch die Atmungsaktivität vermindern. Man nimmt auch an, dass es bei Verabreichung von Eisenhut aufgrund der mit dem größeren Blutangebot in den entspannten Kapillaren zusammenhängenden verstärkten Wärmeabstrahlung zu einem Temperaturrückgang kommt, wozu auch Verdampfung bei der Dilatation der Kapillaren im Bereich der Schweißdrüsen beiträgt.
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