„Es gibt mehr Dinge im Himmel und auf der Erde als sich Ihre Philosophie träumen lässt.“
Es ist wunderbar, das Privileg zu besitzen, in diesen letzten Jahren des 19. Jahrhunderts zu leben und an all den wissenschaftlichen Anstrengungen und Bewegungen teilzuhaben, die versprechen, die Zivilisation mit ihrem höchsten Ruhm zu krönen. Im Bereich der Medizin finden Veränderungen statt, die den vergangenen Generationen noch gänzlich unbekannt waren. Auch in anderen Sparten der Kultur- und Naturwissenschaft weicht die Künstlichkeit der Natürlichkeit. Es gab in der Wissenschaft allerlei Ballast, der nun abgeladen wird, und wir werden mehr und mehr zu den einfacheren und sichereren Methoden der Natur zurückgeführt. Von einem alten Gelehrten stammt diese begeisterte Lobpreisung der Heilkunst:
„Bei nichts kommt der Mensch den Göttern näher als bei der Gesundmachung seiner sterblichen Mitmenschen.“
Die Wissenschaft schreitet unentwegt fort. Jedes neue Jahrzehnt eröffnet im wissenschaftlichen Bereich Tiefen und Einsichten, wie man sie sich bis dahin noch gar nicht hatte vorstellen können. Keine Wissenschaft und keine Kunst ist jedoch derart vielen Veränderungen unterworfen wie die der Medizin – wobei wir hier den Begriff Medizin im weitesten Sinn verwenden. Nach der Definition von Dr. Malcom Morris, F.R.C.S., der über den medizinischen Fortschritt während der Regierungszeit der Königin schreibt, umfasst Medizin „[…] die gesamte Heilkunst und jene Gesetze, auf denen diese Praxis beruht.“ Die Wissenschaft der Medizin ist nicht auf Medikamente bzw. deren Verschreibung oder Gebrauch beschränkt. Tatsächlich bringt die Therapie der modernen medizinischen Colleges Medikamente rasch in Misskredit. Das Enzyklopädische Wörterbuch definiert Medizin als „Wissenschaft und Kunst, die in erster Linie auf die Verhütung von Krankheiten und in zweiter Linie auf deren Heilung zielt.“ Nur ein sehr kleiner Teil des Ausbildungsprogramms ist den Medikamenten gewidmet. Anatomie, Physiologie, Pathologie, Symptomatologie und Diagnose haben ihre Bewahrer, Förderer und Verteidiger in diesen Schulen gefunden. Und wenn wir die Pharmakologie beiseite lassen, sehen wir immer noch ein großes Feld der medizinischen Ausbildung vor uns liegen.
Allmählich verstehen die Menschen, dass man Krankheiten durch wissenschaftlichere Methoden heilen kann als durch die Anwendung mysteriöser und unsicherer Medikamente. Nahezu instinktiv scheinen sich Menschen in allen Ländern in die gleiche Richtung einem System zuzuwenden, dessen Hauptprinzip es ist, den Körpermechanismus an sich selbst anzupassen und seine organischen Funktionen zu harmonisieren. Drückt ein verspannter Muskel auf einen sensiblen Nerv, entsteht Schmerz, drückt er auf einen motorischen Nerv, hat das den Verlust der Muskelfunktion oder Lähmung zur Folge. Die Dislozierung eines Knochens, Ligaments oder Muskels mit Behinderung eines Blutgefäßes erfordert die mechanische Kunstfertigkeit eines Maschinisten, um die Dislozierung zu beheben oder die Behinderung zu entfernen, sodass das System in Freiheit und normal arbeiten kann. Die Inaktivität von Nerven, eine Flüssigkeitsstauung oder die Ansammlung verseuchter und keimhaltiger Flüssigkeiten im System erfordern die mechanische Befreiung der verursachenden Teile. Und in dieser Befreiung liegt das Geheimnis der Wiederherstellung der Gesundheit und der Beseitigung von Leiden und Krankheit. Wissenschaftliche Forscher in der gesamten Welt beginnen zu erkennen, dass wir bei der Therapie auf der Basis der Anpassungsfähigkeit Struktur und Funktionen des Körpers beachten müssen. Dr. Willock, M. R. C. S., der mehr Aufmerksamkeit für neue, die Brust betreffende Behandlungsformen fordert, ist der Ansicht, diese Methoden zur Behandlung derartiger Krankheiten
„[…] haben die Medikamente aus ihrer Monopolstellung vertrieben. Sie zeigen, dass etwas anderes als pharmazeutische Produkte eine entscheidende Heilwirkung auf pathologische Zustände des Atmungs- und des Kreislaufsystems hat. Unter allen Organsystemen, von deren ununterbrochener funktioneller Aktivität das Fortbestehen des Lebens abhängt, sind es diese beiden, über die wir am meisten mechanische Kontrolle haben. Und wir können über mechanische Mittel eine beachtliche und bedeutende therapeutische Wirkung bei bestimmten Erkrankungen von Herz und Lungen erzielen.“
Durch die Anwendung der mechanischen Behandlung wird, wie Dr. Willock hinzufügt,
„[…] die Belastung des geschwächten Gewebes vermindert und seine Vitalität verlängert. Zusätzlich wird die Wirkung andauernder Bewegungen auf elastische und Muskelgewebe diese stärken – vorausgesetzt übertriebene Anstrengung wird vermieden.“
Mechanische Bewegungen verschaffen uns demnach verstärkte funktionelle Aktivität und verstärkte Ernährung. Ergänzen wir dies noch durch die Tatsache, dass durch mechanische Mittel die Nervenstimulation physiologisch gefördert, Blut und Lymphe befreit und sämtliche Behinderungen aus dem Weg geschafft werden können – dann besitzen wir die fundamentale Basis der Osteopathie.
ABB. 12: LITTLEJOHNS EINBÜRGERUNGSURKUNDE (1899)
In jenem Jahr, in dem Littlejohn zum Präsidenten der A.S.O. gewählt wurde, erhielt er auch seine amerikanische Einbürgerungsurkunde.
Unsagbar viel Dank schulden wir unseren Vorläufern, welche die Felder der normalen und der morbiden Anatomie und Physiologie gepflügt und es uns so ermöglicht haben, die Prinzipien der Osteopathie mit Präzision und Bestimmtheit auf das menschliche System anzuwenden. Das Prinzip der Osteopathie ehrt das similia similibus curantur wieder in jenem Sinn, dass die einzige vernünftige und wissenschaftliche Methode des Heilens von Krankheiten auf der Natur basiert: Die Natur hat auch in anderen Bereichen Siege errungen – etwa im Bildungsbereich, wo sie das alte Pauksystem abgelöst und aus Bildung die Anregung mentaler Entwicklung durch geschickte Wissensvermittlung mit Hilfe der Methode Natur gemacht hat. Das Gleiche kann sie auch im Bereich der Medizin leisten, wenn alles entfernt wird, was unnatürlich ist. Sie erlaubt den Rückgriff auf das vollkommene medizinische Labor des Lebens, aus dem die beruhigenden Ströme der Natur zu den erkrankten Teilen fließen.
In Allbuts neuem System der klinischen Medizin findet sich folgende Feststellung:
„Wir verschreiben Medikamente zu zwei Zwecken:
(1) um durch Entfernen sämtlicher Zustände, die Krankheit hervorbringen, Gesundheit direkt wiederherzustellen. Dabei gehen wir empirisch vor, ohne spezifische Kenntnisse – sehr oft sogar ohne eine genaue Kenntnis des Wirkmechanismus unserer Medikamente.
(2) um anomale Gewebe bzw. Organe in Richtung Normalzustand zu beeinflussen. Dies erreichen wir durch den Einfluss, den die chemischen Eigenschaften der Medikamente auf die Struktur und Funktion der verschiedenen Gewebe und Organe ausüben.“
Medikamententherapie ist also empirisch und ermangelt damit der Exaktheit und wissenschaftlichen Genauigkeit. Wir hingegen versuchen auf dem weitaus größeren Anwendungsfeld der Medizin zu einer wissenschaftlich begründeten Therapie vorzustoßen, insofern wir feststellen wollen, warum ein Organ oder Gewebe sich in einem anomalen Zustand befindet. Dabei benutzen wir Symptome und morbide Zustände, um die Ursachen zu erfassen – oder sie zumindest als sekundäre Ursachen zu entlarven. Durch sorgfältige physische Untersuchung des Status der neuronalen und vaskulären Versorgung im lokalen Bereich mit dem Ziel, jede Irritation oder Behinderung der Kräfte, die diesen Teil versorgen, aufzufinden und zu entfernen, wird die Grundlage für das therapeutische Anpassen mittels Manipulation geschaffen – und das ist Osteopathie.
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