Die Theorie der Medizin bzw. der Heilkunst – Ausdrücke, die ich bewusst synonym verwende – besteht darin, wissenschaftliche Mittel aus physiologischer Sicht so einzusetzen, dass das Leben geschützt und verlängert wird. Und sofern das Leben durch eine Krankheit, einen Unfall oder falsche Verwendung angegriffen oder bedroht wird, können bestimmte physiologische Prinzipien in Bezug auf das Körpersystem angewendet werden, um diese Zustände zu heilen oder zu lindern. Seit jeher versucht der Mensch, das menschliche System zu diesem Zweck zu behandeln. Aus diesen Versuchen entstand auch die medizinische Profession. Diese hat von der frühesten Antike an ihr Recht erworben, Krankheiten zu behandeln, wobei sie ihre moralische und rechtliche Verantwortung beim Umgang mit menschlichem Leben und Gesundheit anerkannt hat. Und sie hat versucht, das Leben angenehmer und folglich glücklicher zu machen – für die Lebenden, aber auch für die Sterbenden. Mit ihren national unterschiedlich formulierten Gesetzen wurde die Profession moralisch legalisiert, da ihre Ziele eben die Bekämpfung von Krankheit, das Verlängern des Lebens und die Mehrung der Annehmlichkeiten im Leben sind.
Bis heute gibt es allerdings in Bezug auf allgemeine Anwendungen keinen empirischen Standard, der von allen anerkannt ist. In der Frühzeit spielten magische Zeremonien und hypnotische Einflüsse in den Händen einer Priesterklasse von Ärzten die bedeutendste Rolle. Mit der Entdeckung der medizinischen Eigenschaften von Pflanzen, Mineralien und bestimmten Auszügen tierischer Gewebe und Organe, wurden diese als medizinische Agenzien eingesetzt. Zu Aderlass und Zugpflaster nahm man Zuflucht, um spekulativen Einflüssen im Körperorganismus entgegenzuwirken. Schließlich wurden bestimmte Schwingungs- und Massagebewegungen entdeckt, um auf den Stoffwechsel des Körpers und die organische Funktion einzuwirken. Diese wurden als heilende Agenzien akzeptiert. Hilton und andere stellten fest, dass das Prinzip der Ruhe, sofern es auf den Organismus oder seine Teile angewendet wird, die sonst in Gebrauch oder überlastet sind, ein neues und therapeutisches Prinzip erbrachte, wobei der Natur mit Unterstützung einer guten Ernährung die Harmonisierung aller Teile und mithin die Regeneration der Gesundheit überlassen wird. Andere haben festgestellt, dass die Anwendung von Wärme und Kälte auf den Körper einen entscheidenden Einfluss auf die Modifikation der Zustände von Kreislauf und Nerven hat, sodass thermale Agenzien aktiv verwendet werden können, um den Normalzustand wiederherzustellen. Weiterhin hat man herausgefunden, dass Licht eine markante therapeutische Wirkung auf den animalischen Organismus besitzt; Licht mit niedriger Frequenz beeinflusst beispielsweise die chemischen Prozesse und Licht mit hoher Frequenz ruft durch Modifizierung der Gewebespannung in Bezug auf die organischen Bewegungen mechanische Veränderungen im Organismus hervor. Den jüngsten Versuch in dieser Reihe, die Therapie der Natur anzuwenden, stellt die Osteopathie dar. Sie kann am besten als physiologisch-medizinischer Versuch beschrieben werden, die Harmonie der Natur auf der Basis des menschlichen Organismus als eines vollkommenen Mechanismus wiederherzustellen, ohne dass dabei äußere Medikation verwendet wird. Insbesondere seit Virchow sind Männer in anderen Bereichen durch das Studium der Biologie und Physiologie dazu gebracht worden, die Zelle als vitale Einheit zu betrachten, die zu Ernährung und Reproduktion fähig und auf der Grundlage dieser funktionellen Basis auch in der Lage ist, sich zu erneuern und in Verbindung mit der Masse anderer lebendiger Zellen einen Organismus als „Gesamtsumme lebendiger Einheiten“ zu bilden „[…] von denen jede alle Eigenschaften des Lebens offenbart.“ Parallel dazu stellen wir fest, dass die Nervenkraft als Hauptgewebe des Körpers, in sich das verborgene Prinzip der trophischen funktionellen Kontrolle über sämtliche Gewebe im Organismus enthält. Die winzigsten Nervententakel insbesondere im vegetativen bzw. unwillkürlichen Nervensystem kontrollieren jene vitalen Prozesse, die wesentlich für das Leben des Organismus sind. In nahezu jedem Labor in unseren europäischen Universitäten finden wir Männer, die tief in diesen physiologischen und biologischen Prozessen graben, um das Geheimnis des Lebens in der Zelle und im Organismus zu lüften, und – sofern möglich – all jene vitalen Prozesse zu erklären, die bei der Erneuerung der Zelle und des Lebens des Organismus stattfinden.
Die alte, durch Medikamente repräsentierte Wissenschaft der Medizin begann schon vor langer Zeit zu stürzen aufgrund der Angriffe des Skeptizismus, der stets der Wahrheit vorausgeht. In Molieres Theaterstücken finden wir das unnachahmlich gezeichnete Bild eines Mannes, der von Natur aus ein halber Narr war und künstlich in einen Arzt verwandelt wurde. Sein Geist war, wie es Goethe ausdrückte „[…] gut in spanische Stiefel eingefasst und festgeschnürt.“ „Nach mehreren Hammerschlägen auf das Eisen […]“ erhielt er sein Diplom. Seine größte Empfehlung bestand darin, dass er blind den Meinungen seiner Ahnen folgte. Heute leben wir jedoch in einem Zeitalter der Freiheit. 1566 stieß die medizinische Fakultät in Paris die Bewegung an, indem sie auf einstimmigen Beschluss hin folgende Resolution verabschiedete:
„[…] Gegenmittel sind schädlich und unter die Gifte zu zählen. Auch durch andere Aufbereitung lassen sie sich nicht so verbessern, dass man sie ohne Schädigung zu sich nehmen kann.“
1615 untersagte dieselbe Fakultät einstimmig den Medikamentenverkauf und rief alle Richter dazu auf, streng mit jenen zu verfahren, die besagte Medikamente verschrieben, verordneten oder zum Verkauf anboten. Beide Beschlüsse wurden vom Französischen Parlament ratifiziert und behielten gut 100 Jahre ihre Gültigkeit. Dennoch blieb es der Osteopathie vorbehalten, das Blut nicht nur als bedeutendes Mittel des Lebens zu behandeln, als jenen Faden, der die verschiedenen Gewebe des Körpers unter der Leitung und Kontrolle des Nervengewebes zu einer Einheit zusammenfügt, sondern auch Blut und Nervenkraft als Medizin der Natur einzustufen. Erst seit sehr kurzer Zeit beginnen wir, den Körper als einen großen, lebendigen Mechanismus zu erkennen, und damit seine Lebenskraft ungehindert sein kann, müssen die verschiedenen Teile der Maschine in Harmonie arbeiten, das Skelett muss an jede Bewegung von Knochen, Ligament und Muskel angepasst sein, reine Luft muss jede winzige Zelle einer unbehinderten Lunge und jede winzige Mulde gesunden Gewebes durchdringen, reines Blut muss in jedem Organ und Gewebe zirkulieren und eine vollkommene Nervensubstanz mit einer unbezähmbaren organischen Kraft muss jedes Gewebe beleben und durch jeden Bereich des Körpers verlaufen. So sieht die Osteopathie die Funktionen im menschlichen Körper.
Sie geht davon aus, dass die Verschreibung anorganischer Medikamente das physiologische System schädigt. In dieser Ansicht wird sie von den meisten bedeutenden Ärzten unterstützt, die eine Therapie ohne Medikamente praktizieren. Der berühmte Hilton, der weltweites Ansehen genießt und Rest and Pain geschrieben hat, verteidigte einst die inzwischen überall gefeierte Ruhekur. Weiter findet sich u. a. Dr. Keith, der in seinen Plea for a Simpler Life und Pads of an old Physician dasselbe Prinzip entschieden verteidigt und in einigen seiner Überlegungen die osteopathische Behandlung bereits antizipiert, insbesondere bei Angina pectoris . Die gefeierte manuelle Behandlung von Ling besitzt viele Aspekte, welche die osteopathische Therapie andeuten. Dr. William Osler lehnt in seinem glänzenden Werk über die Practice of Medicine den Gebrauch von Medikamenten als vergebliche und unzureichende Therapie rundweg ab. Den Höhepunkt erreicht er, indem er beim Erörtern von Krankheitsursachen „[…] die Einnahme von Medikamenten, jene schädlichste aller Gewohnheiten“ als eine der nahezu beständigen Ursachen von Krankheit bezeichnet.
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