«Ich will dir ja nichts einreden, aber wenn man schon gesehen haben will, dass jemand etwas mit sich führt, dann muss man doch wenigstens erkannt haben, ob es von alleine lief oder geschoben wurde. Die Kollegin damals ist mit Sicherheit auch nicht auf den Kopf gefallen. Wie gesagt, ich will dir nichts einreden. Aber wenn du immer noch ein ungutes Gefühl bei der Sache hast, dann sollte man sich etwas näher mit diesem Zeugen beschäftigen. Schließlich hat er nie eine Aussage gemacht, die in einem Prozess hinterfragt werden konnte, denn leider …»
«Ich weiß, was du sagen willst», unterbrach ihn Neele. «Eine unschöne Erinnerung!»
«Entschuldige! Trotzdem können Untersuchungen nicht einfach abgebrochen werden, wenn der Hauptverdächtige verstirbt. Nicht bei einem solchen Ermittlungsergebnis! Es könnte ja sein, dass der wirkliche Täter noch frei herumläuft.»
«Was willst du damit sagen?»
«Bei solch einem Ermittlungsergebnis hätte kein Staatsanwalt jemals Anklage gegen deinen Vater erhoben! Wir hätten die Sache postwendend wieder auf unseren Tisch bekommen, mit der Aufforderung, unsere Arbeit vernünftig zu machen.»
«Weiß man eigentlich irgendetwas über das Opfer?»
«Das Opfer? Warum sollte das wichtig sein?»
«Nur so. Aber vielleicht können wir dem Zeugen mal einen Besuch abstatten.» Früher hatte Neele nie verstanden, was Menschen daran reizte, Detektiv zu spielen.
Rainer schien ihre Gedanken erraten zu haben. «Hör zu, das hier ist keine Fernsehserie!»
«Nicht?», fragte sie ironisch.
«Das mit dem Zeugen ist zum Beispiel so eine Sache. Ich habe versucht, etwas über ihn in Erfahrung zu bringen, aber irgendwie ist er von der Bildfläche verschwunden. Vielleicht ist er bereits tot.»
«Und warum, lieber Rainer, säst du dann Zweifel in mir, wenn der Zeuge vielleicht gar nicht mehr befragt werden kann?»
«Was sagt eigentlich Tino zu der ganzen Sache?» Rainer schien ablenken zu wollen.
«Jetzt lass mich doch endlich mit Tino in Frieden!» Sie wusste wirklich nicht, was diese Fragerei nach ihrem Freund sollte. «Ich habe ihm nichts von meinen Nachforschungen erzählt, und ich weiß auch nicht, warum du immerzu nach ihm fragst.»
«Redet man nicht eigentlich über solche Dinge, wenn man in einer Beziehung ist?»
Wie sie solche Fragen hasste! Ja, das tat man. Aber sie tat es nicht – gezwungenermaßen. Seit Wochen schon hatte sie nichts mehr von Tino gehört. Eigentlich wusste sie gar nicht mehr so genau, ob sie überhaupt noch mit ihm zusammen war. Am meisten erstaunte sie jedoch, dass sie sich zum ersten Mal nicht mehr sicher war, ob sie noch eine Beziehung mit ihm führen wollte .
Tags darauf war Neele überzeugt, sie müsse endlich flügge werden. Sie wollte nicht länger nur von Rainers Flügeln getragen werden. Sie wollte nicht alles mit ihm planen und unternehmen, sie wollte die Richtung ihrer Nachforschungen selbst bestimmen. Es sollte ihre Suche sein, es sollte ihr Ergebnis sein!
Sie hatte das Gefühl, dass sich Rainer in Angelegenheiten einmischte, die ihn nichts angingen. Vorsichtig tapste sie zum Nestrand. Den ersten Schritt des Flüggewerdens hatte sie bereits hinter sich gebracht: Sie hatte den Willen zum Fliegen entwickelt. Neele war eigentlich kein aufmüpfiger Mensch, aber wenn sie die damaligen Ermittlungsberichte überdachte, ging ihr die Hutschnur hoch. Der Unfall konnte sich eindeutig auch anders zugetragen haben, als amtlich festgestellt worden war. Der zweite Schritt des Flüggewerdens stand kurz bevor: losfliegen. Entschlossen machte sie sich auf den Weg, um ihre eigenen Erkenntnisse zu gewinnen.
Zweimal sah Neele auf das Straßenschild, um zu prüfen, ob sie sich nicht getäuscht hatte. Dieser Pfad sollte die Breite Straße sein? Da hatten doch bestimmt ein paar Halbstarke im Appelkornrausch die Schilder vertauscht! Sie schaute im Stadtplan nach. Tatsächlich – die Breite Straße war weder breit noch groß, sie war schmal und eng. Die Mehrfamilienhäuser, die sie rechts und links säumten, waren dafür umso prächtiger. Neele näherte sich dem Haus Nummer 24, einem der wenigen schmucklosen Altbauten der Straße.
In der Schule hatte sie viel über den Kampf um Berlin im Jahre 1945 gelernt, deshalb war sie verwundert, dass es hier noch so viele schöne alte Gebäude gab. Einige davon wirkten allerdings wie Pfauen mit Federnausfall. Von diesen Häusern, allesamt zu Kaisers Zeiten erbaut, hatte man in der Nachkriegszeit den Stuck abgeschlagen. Neele war entsetzt gewesen, als sie davon zum ersten Mal gehört hatte. Wie hatte man nur so etwas tun können? Dieses Vorgehen war jedoch nicht als Akt der Barbarei, sondern als ein Beitrag zur schnellen Beseitigung der Kriegsschäden gedacht gewesen. Stucksanierung war aufwendig, so hatte man Neele erklärt, und damit teuer. Also hatte man kurzerhand den Stuckmord mit Prämien für die finanzschwachen Hauseigentümer gefördert. Entstuckungsprämie – scheußliches Wort!
Der Türöffner der Nummer 24 summte, und Neele betrat das großzügige, mit aufwendigen Schnitzereien verzierte Treppenhaus. Im zweiten Stock erwartete sie eine Frau, deren Alter sie nur schwer einschätzen konnte. Also war sie wohl in den besten Jahren. Sie hatte kurzes, dauergewelltes Haar und wirkte weder langweilig noch altmodisch. Neele gefiel, dass sie offensichtlich nicht den albernen Versuch unternahm, jünger zu wirken, als sie tatsächlich war.
«Neele, wie schön, dich zu sehen! Auch nach all den Jahren hätte ich dich sofort wiedererkannt», begrüßte Sabine Wilke sie. Dann führte sie Neele in ihr Wohnzimmer.
Der Raum war auffallend sauber, selbst der helle Teppich war makellos. Und die verschnörkelten Möbel waren mit Häkeldeckchen verziert, auf denen kleine bunte Porzellanfiguren standen.
Neele kam ohne Umschweife auf ihr Anliegen zu sprechen. «Du hast dich bestimmt schon gefragt, warum ich dich treffen wollte», sagte sie, griff in ihre Tasche, holte ein Foto heraus und reichte es Sabine.
Die betrachtete das Bild intensiv, bevor sie langsam sagte: «Das ist wirklich sehr aufmerksam von dir.» Sie deutete ein Lächeln an, aber es wirkte traurig. Dann gab sie Neele das Foto zurück.
«Es wäre schön, wenn du es behalten würdest. Ich dachte, es wäre vielleicht eine nette Erinnerung. Du und meine Mutter, ihr seht so glücklich aus auf dem Foto. Ich wusste ja nicht, dass du so viele Bilder hast …», erwiderte Neele und sah sich im Wohnzimmer um. Überall standen eingerahmte Fotografien.
«Das ist wirklich sehr aufmerksam von dir», wiederholte Sabine. «Aber das Bild stammt aus einer Zeit, die ich eigentlich aus meiner Erinnerung verbannt habe. Bitte versteh mich nicht falsch, Neele! Ich denke nicht schlecht über deine Mutter, das Gegenteil ist der Fall. Nur, die Umstände, die uns damals zusammengeführt haben, gehörten nicht zu den schönsten meines Lebens. Aber wem sage ich das! Du warst noch klein, als ich deine Mutter kennenlernte. Weißt du noch?»
Merkwürdig. Neele konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, Sabine Wilke jemals zuvor getroffen zu haben. Vor ihrem inneren Auge sah sie nur immer wieder das Foto von Sabine und ihrer Mutter auf deren Kommode stehen. Einige Jahre war es nun schon her, dass Neele ihre Mutter gefragt hatte, wer die fremde Frau auf dem Bild sei. Doch Helena van Lenk hatte nur unwirsch Sabines Namen genannt und kurz erklärt, es handele sich um eine alte Bekannte. Sie hatte Neele weder gefragt, ob sie sich an Sabines Besuche erinnern könne, noch etwas über gemeinsame Erlebnisse erzählt. Über die Vergangenheit verlor ihre Mutter niemals ein Wort.
Während des Wochenendes an der Ostsee hatte Neele an ihre Heimat denken müssen. Im Traum war sie durch das Haus ihrer Mutter gelaufen und vor der Kommode mit den Fotos stehen geblieben. Plötzlich war sie hochgeschreckt. Der Name! Auf einmal hatte sie gewusst, woher sie den Namen kannte, den sie vor Kurzem in den Akten gelesen hatte: Valentin Faber. So hatte das Unfallopfer geheißen, und Sabine Faber lautete der Name der unbekannten Freundin ihrer Mutter auf dem Foto. Das war unheimlich. Neele hatte sich in dieser Nacht fest vorgenommen herauszufinden, ob es einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Personen gab. Sie war zu dem Schluss gekommen, dass ihre Mutter ihr darüber bestimmt nichts sagen würde. Also hatte sie sich entschlossen, der Sache selbst auf den Grund zu gehen.
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