»Ich gehe noch mal raus«, sagte er schließlich.
Sedain sah auf, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen.
»Sag liebe Grüße.« Doch Kraeh hatte schon die Tür hinter sich geschlossen.
Er wanderte weniger ziellos, als er sich eingestehen wollte, durch die engen Gassen der Stadt. Passierte er ein Tor, grüßte er die vertrauten Wachen, die gelangweilt auf ihre Hellebarden gestützt ihren Dienst verrichteten.
Der Schein des Sichelmondes wurde ständig von Wolkenschwaden unterbrochen, weit entfernt grollte Donner, als er vor einem mehrstöckigen Gebäude, von dessen Giebeln dämonische Fratzen lachten und wo in schiefen roten Lettern Magdalena geschrieben stand, haltmachte. Erleichtert stellte er fest, dass in dem Eckfenster im zweiten Stock eine Kerze brannte; die kleine Rote hatte demnach keinen Kunden. Wie jedes Mal versuchte er, sich an ihren richtigen Namen zu erinnern, und wie jedes Mal gab er es nach kurzer Zeit auf. Bei ihrem ersten Treffen vor drei Jahren hatte sie sich vorgestellt, beim zweiten Mal war es ihm peinlich, sie erneut zu fragen, und mittlerweile war es ihm unmöglich, sein Unwissen einzugestehen und sie damit vor den Kopf zu stoßen. Er klopfte an und ein bulliger Glatzkopf öffnete.
»Du weißt ja, wo’s langgeht.«
Kraeh schob sich an ihm vorbei, stieg eine muffige Treppe hoch, klopfte erneut und betrat das vertraut schäbige Zimmer.
Die Hälfte des Raums nahm eine mit bunt gemischten Fellen hergerichtete Schlafstätte ein, auf der eine spärlich verhüllte Frau saß; sofort nahm sie eine aufreizende Pose ein.
»Welch hoher Besuch«, sagte sie in ihrer flötenden Stimme, reckte sich und löschte die Kerze am Fenster mit den Fingern.
Ein Kohlebecken verbreitete eine glimmende Wärme.
»Schön, dich zu sehen, du wirst von Mal zu Mal anmutiger«, gab er zurück, und zog die Tür hinter sich zu.
»Ach ja?« Eines ihrer langen, elfenbeinfarbenen Beine rekelte sich unter ihrem Kleid hervor, wodurch der Saum bis zum Schritt nach oben verrutschte. Langsam fuhren ihre Zehen seine Oberschenkel hinauf. Das Blut in seinem Körper verlagerte sich, doch er bemühte sich um Beherrschung.
»Warte«, bat er. Sie zog ihren Fuß zurück.
»Was denn«, fragte sie leicht spöttisch, »heute nicht in Stimmung?«
Er ging nicht darauf ein. »Sag, ist dir in letzter Zeit etwas Seltsames aufgefallen?«
Sie wirkte verwirrt. »Was meinst du?«
»Du hast doch sicherlich von dem Tod Gunthers gehört. Was erzählen deine Kunden?«
Sie musterte ihn abschätzend. »Um ehrlich zu sein, ich habe mich nie viel darum geschert, was die Männer alles reden, solange sie am Ende zwei Silberstücke hierlassen.« Sie erkannte die Enttäuschung in Kraehs Gesicht. »Was soll’s?«, sagte sie, rückte ein paar Felle zurecht, legte sich seitlich darauf und lud Kraeh mit einer Geste ein, sich neben sie niederzulassen. Eine Armeslänge lag zwischen ihren Köpfen. Noch ein kurzes Zögern, ein Lächeln des attraktiven Mannes, dann ließ sie sich zwinkernd auf das Spiel ein.
»Vermutlich darf ich gar nicht darüber sprechen; schwöre mir, niemandem davon zu erzählen.«
Der Krieger legte die Hand aufs Herz.
»Also, viele denken, Bran hat mit dem Mord zu tun.«
»Was?!«
Sie setzte sich halb auf und verschränkte die Arme auf einem angewinkelten Knie.
»Schon gut«, lenkte er ein.
Sie wartete einen strafenden Moment, bevor sie fortfuhr.
»Man sagt, er habe große Pläne. Außerdem geht das Gerücht über einen unheimlichen Fremden in der Stadt um.«
Kraeh war hellwach, etwas regte sich in seiner Erinnerung.
»Das Sonderbare ist, dass niemand ihn bisher beschreiben konnte. Als handle es sich um einen Geist«, fügte sie flüsternd hinzu, kicherte dann aber über die eigenen Worte. »Auch munkelt man, es verschwänden Kinder aus den Dörfern. Aber du weißt ja, wie das einfache Volk so ist. Eine Kuh gibt saure Milch und eine Woche später ist sich jeder sicher, eine Drude mit zwei Köpfen gesehen zu haben.« Erneutes Kichern.
Sie ging auf die Knie, streckte den Oberkörper, fuhr mit der Linken hinter den Nacken und streifte gekonnt das Kleid über den Kopf. Nackt saß sie nun vor ihm und lächelte ihm erwartungsvoll entgegen.
»War’s das, du wissbegierige Krähe?«
Er versuchte nachzudenken, doch ihre steifen Brustwarzen ließen seine Erregung anschwellen und seine Gedanken zerfaserten irgendwo zwischen Bauchnabel und rot gelockter Scham.
Er setzte sich auf und nahm ihren Kopf in beide Hände. »Nicht ganz. Lass es uns endlich tun.«
Am Mittag des nächsten Tages betrat Kraeh übernächtigt die Audienzhalle seines Fürsten.
Bran wirkte einsam und müde, wie er da allein an der großen Tafel seiner Vorfahren saß. Aber seine Stimme war fest und bestimmt, als er seinen zweiten Krieger ansprach.
»Ich bin froh, dich zu sehen, Kraeh. Ich bin mir im Klaren darüber, dass böse Zungen dieser Tage schlecht über mich reden. Umso wichtiger sind in solchen Zeiten loyale Männer wie du.«
Der Auftritt in der Schenke hatte allem Anschein nach Wirkung gezeigt. Bran erhob sich und legte väterlich einen Arm um Kraehs Schultern. Er hatte sein glattes, braunes Haar zu einem Zopf gebunden. Gemächlichen Schrittes führte er ihn an den Gemälden der Altvorderen vorbei, deren Augen Ehrfurcht gebietend von beiden Seiten der Halle durch die Zeiten hindurch auf sie hinabblickten.
»Wir sind in einem Zustand der Schwäche, mein junger Freund. Ohne Einigung, ohne Hochkönig sind wir gefundenes Fressen für all die Wilden und Ruchlosen, die mit Neid auf unsre Ländereien schielen. Spione berichten, unter den Orks habe sich ein Kriegsherr hervorgetan, stark genug, die Stämme unter seinem Banner zu einen.«
Bran hielt vor dem ältesten der Bilder inne. Kraeh war das Abbild vertraut. Es war das unbeugsame Antlitz Hildebrands des Eroberers, das selbst vergilbt noch immer Stärke und Lebendigkeit ausstrahlte.
»Was weißt du von dem Lia Fail?«, fragte Bran eindringlich.
Ohne nachzudenken, antwortete der Krieger, er kenne die alten Geschichten. »Der Stein der Könige. Man sagt, durch seine Kraft sei das Reich der Rheinherren errichtet worden. Hildebrand habe, so sagt man, ihn von den Nornen selbst erhalten, die Orks auf die andere Seite des Flusses getrieben und die Grenzen gesteckt, wie sie heute noch sind. Wie er den Nornen versprochen hatte, behielt er den Stein nicht für sich, sondern schenkte ihn dem, den er für den Würdigsten hielt, die Bürde des Königtums zu tragen – König Giselmund.« Kraeh fiel auf, dass dessen Abbild fehlte. Er mutmaßte es in Triberkh, dem Sitz der Könige.
»Und weiter?«, forderte der Fürst ihn auf.
»Die Nornen, betrügerisch und rachsüchtig, entsagten den Menschen. Und der Stein der Macht verschwand in den dunklen Fluten des Rheins. Seither ward er nie mehr gesehen«, zitierte er die letzten Zeilen eines beinahe in Vergessenheit geratenen Volksliedes, das sein Ziehvater ihm beim Fischen oft vorgesungen hatte.
Bran lächelte. »Aber er ist wieder aus den Fluten aufgetaucht. Weit im Norden, wo die Dänen herrschen, sitzt eine Bestie auf ihm, man nennt sie Siebenstreich und sie versklavt die umliegenden Völker.« Langsam begann Kraeh zu verstehen, während Bran fortfuhr: »Seine Macht würde uns Frieden bringen. Was meinst du? Bezwingt die Krähe Fluss, Meer und Bestie und schenkt ihrem Land Einigkeit?«
Stille folgte, das Schweigen füllte die kühle Halle mit Schicksalsschwere. Selbst die Kerzen schienen den Atem anzuhalten.
Inse, Brans Frau, betrat die Halle und reichte den Männern wortlos mit Met gefüllte Hörner. Kraeh bedankte sich, während Bran die füllige Frau, deren einzige Bestimmung er darin sah, ihm gesunde Nachfahren zu gebären, wie meist ignorierte. Trotz ihrer emsigen Versuche, dieser Erwartung nachzukommen, hatten all ihre Schwangerschaften in Totgeburten geendet. Dennoch ließ Bran keinen Zweifel daran, dass ihre Stellung an seinem Hof sicher war. Für einen Fürsten gab es genug andere Möglichkeiten, sich um Nachkommenschaft zu kümmern. Sie konnte also durchaus zufrieden sein mit ihrer Lage. Nur gelegentlich, wie jetzt gerade, schien sie unter der geringen Zuwendung ihres Ehemannes zu leiden. So unscheinbar, wie sie gekommen war, huschte sie wieder von dannen und ließ die Männer allein. Kraeh nahm einen tiefen Schluck.
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