Hier gilt es zu beachten, dass diese Quellen aus christlicher Hand sind und dass die Autoren die Religion der „Heiden“ häufig nicht aus erster Hand kannten. Nicht selten interpretierte man die Religion der Andersgläubigen nach dem antiken Heidentum. 8
Als antike Quellen dienen De bello Gallico 9von Gaius Iulius Caesar sowie die Germania 10von Tacitus.
Für den Nachweis der germanischen Götter wurden unter anderem Die Edda – Die wesentlichen Gesänge der altnordischen Götter- und Heldendichtung 11, übersetzt von Felix Genzmer, sowie die Die Götterlieder der Älteren Edda 12und Die Edda des Snorri Sturluson 13, in der Übersetzung von Arnulf Krause, genutzt.
Auch diese Quellen sollen unter dem Aspekt betrachtet werden, dass die sogenannte Liederedda erst im 10. oder 11. Jahrhundert verschriftlich wurde, 14die Prosaedda sogar erst im 13. Jahrhundert. 15
Diese Quellen sind bei der Interpretation des zweiten Merseburger Zauberspruchs behilflich, sollten aber dennoch kritisch betrachtet werden. Unter anderem aus den oben genannten Gründen sollte die „‚regressive Methode‘, d.h. der Versuch, Rückschlüsse aus späterer Folklore auf eine frühere Überlieferungsschichte zu ziehen, […] mit aller gebotenen äußersten Vorsicht“ 16geschehen. Das bedeutet, dass man diese Quellen zwar als hilfreich ansehen kann, aber einbeziehen sollte, dass sie einen zeitlichen und räumlichen Abstand zu der Quelle, die man interpretiert, aufweisen. Im Falle der Edda kann man zum Beispiel nicht mehr von einem authentischen heidnischen Werk sprechen, da sie in einer Zeit aufgezeichnet wurde, in der Island schon Kontakt zu christlichem Gedankengut hatte bzw. schon christianisiert war.
Wenn man von Magie spricht, so spricht man von einem Phänomen, das dem modernen und aufgeklärten Menschen zwar wohlbekannt ist – allerdings nur aus dem Erzählen, „sei es in mündlicher, schriftlicher, bildlicher oder szenischer Form.“ 17Die Faszination, die Magie auf den Leser oder den Zuschauer ausübt, lässt sich unter anderem mit dem Erfolg von Buchreihen wie Harry Potter belegen. Was Magie aber wirklich für den archaischen Menschen bedeutet hat, ist dem modernen Menschen seit der Aufklärung nicht mehr zugänglich. Horkheimer und Adorno sprechen in der Dialektik der Aufklärung von der „Entzauberung der Welt.“ 18
Doch was ist Magie genau?
Das Lexikon des Mittelalters definiert Magie folgendermaßen:
Magie beruft sich als Denksystem auf die Vorstellung von den sympathetischen Strukturen des Kosmos. Die Verwobenheit von Makro- und Mikrokosmos schafft ein Netz von Kommunikationsmöglichkeiten zwischen dem Menschen und den Göttern bzw. Dämonen, wobei das magische Ritual eine bild- und zeichenhafte Handlung für diese ausführenden medialen Wesen darstellen. 19
Das symbolische Denken hat allerdings nicht nur in der Magie, sondern auch in der Denkweise des Mittelalters eine hohe Bedeutung. Das gesamte Mittelalter war durch symbolisches Denken geprägt. Jedes Zeichen ist mit einem realen Gegenstand identisch. 20Nach Neiske gaben „das allegorische Denken und die vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten […] Sichtbarem und Unsichtbarem eine nahezu gleichartige Wirklichkeit.“ 21
Im neoplatonischen Denken war „alles irdische Sein […] ‚Abbild‘ des Himmlischen.“ 22Jedes Ding hatte sein Abbild im himmlischen Bereich, „aus dem es hervorgegangen war und auf das es allein durch seine Existenz symbolhaft-ontologisch zurückverwies.“ 23Auch der Mensch war als „Mikrokosmos ‚Symbol‘ der Schöpfung.“ 24
Für den mittelalterlichen, aber auch für den „archaischen Menschen“ 25ist „das Symbol […] realer Inhalt, in sich Wirklichkeit und folglich ein unentbehrlicher Faktor des Denkens und Handelns.“ 26Nach Gadamer verweist „das Symbolische […] nicht nur auf Bedeutung, sondern lässt sie gegenwärtig sein; es repräsentiert Bedeutung.“ 27Des Weiteren „[meint] Repräsentation […] nicht, dass etwas stellvertretend oder uneigentlich und indirekt da ist, als ob es ein Substitut, ein Ersatz wäre.“ 28
Hier ist es egal, ob im magischen Ritual eine Puppe den zu bezaubernden Menschen repräsentiert oder ob in der Eucharistie Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi transformiert werden. Die Puppe ist im Ritual dieser Mensch, Wein und Brot sind der Leib und das Blut Christi. 29
Alle magischen (und auch religiösen) Gesetze ziehen Kausalverbindungen, die nicht auf den allgemeinen Gesetzen der Logik beruhen. Irmgard Hampp sagt, das kausal Erscheinende sei „ein rein assoziativer Analogieschluß, weil primitives Denken vor allem assoziatives Denken nach äußeren Analogien“ 30sei. Diese Denkweise zeigt sich auch in den Grundprinzipien der Magie, die in Kapitel 4.1.noch genauer erläutert werden.
Des Weiteren kann man „Magie als willentliche Einflussnahme auf den Menschen (z. B. Schaden-Liebeszauber), auf die Umwelt (z. B. Wetterzauber) und als Reaktion auf alltägliche Bedürfnisse […]“ 31ansehen.
3.1 Anwendungsgebiete der Magie
Magie und Zaubersprüche dienen hauptsächlich dazu, die nächste Umwelt des Menschen zu beeinflussen. Nach Irmgard Hampp setzt der Glaube an Magie ein Denken voraus, das „alle Dinge zur eigenen Person in Beziehung setzen läßt.“ 32Die nächste Umgebung des Menschen, also „Familie, Haus und Hof, Nachbarschaft, Dorf oder Stadt“ 33, beschäftigt ihn am meisten. Um diese Umgebung kreisen die Gedanken des Menschen und wie er diese für sich positiv beeinflussen kann. 34
Die Zaubersprüche lassen sich in solche einteilen, die Hilfe gegen ein bestehendes Problem, zum Beispiel gegen eine Krankheit, bringen oder die vorbeugend, zum Schutz, dienen sollen. Des Weiteren nützen Zaubersprüche auch dazu, sich selbst einen Vorteil gegenüber anderen zu verschaffen oder gar um anderen Schaden zuzufügen. 35Der Zauberspruch soll also „Schutz und Hilfe, Vorteil und Schaden“ 36bringen und Einfluss auf den Anwender selbst, aber auch auf seine Mitmenschen sowie auf Tiere, Pflanzen und Wetterbedingungen ausüben. 37
Die meisten der überlieferten Zaubersprüche beziehen sich auf die Heilkunde. Zu diesem Zweck gibt es Zaubersprüche für diverse Erkrankungen, die gleichzeitig für Mensch und Tier genutzt wurden. Da Tiere ebenfalls von Krankheiten betroffen waren, wurden die Zauber- und Segenssprüche auch auf sie angewandt. Bis ins 19. Jahrhundert und darüber hinaus versuchten die Bauern den ländlichen Alltag mit Zaubersprüchen zu beeinflussen. 38Das menschliche Urbedürfnis, das eigene Leben und den Besitz zu schützen, lässt Menschen zu Sprüchen Zuflucht nehmen, mit denen man das Haus segnen, es vor einem Brand schützen und vor bösen Menschen bewahren kann. 39
Anhand der überlieferten Zaubersprüche lässt sich ein Sachverhalt schnell erkennen. Zaubersprüche beziehen sich in der Regel auf profane Probleme, die sich aber durch Kontakt mit dem „Numinosen“ 40lösen sollen. Wolfgang Hartung sieht „die schier unauflösliche Verflechtung von Profanem und Heiligem“ 41als charakteristisch für die Weltsicht des „archaischen Menschen“ an. Wer ist aber der „primitive“ oder der „archaische Mensch“? Mircea Eliade definiert den „archaischen Menschen“ als Menschentyp, für den „der Mythos die eigentliche Grundlage des gesellschaftlichen Lebens und der Kultur“ 42darstellt.
Magie wird aber vor allen Dingen für Bereiche des Lebens angewandt, die unsicher sind, wie zum Beispiel „Krieg und Liebe sowie bestimmte Mächte des Schicksals und der Natur, wie Krankheit, Wind und Wetter.“ 43Bei Vorgängen oder Tätigkeiten, bei denen „die Tätigkeit sicher, zuverlässig und unter der Kontrolle von rationalen Methoden und technischen Prozessen steht“, 44wird Magie nicht ausgeübt. Anlass für eine Magieausübung sind immer Bereiche, in denen „das Element der Gefahr“ 45ersichtlich ist, zum Beispiel bei der Jagd oder bei einem schwierigen Herstellungsprozess. 46
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