Inge Friedl
SCHLICHT UND EINFACH GEMEINSCHAFT
Vom miteinander Reden und miteinander Leben
AM 3. APRIL 1973 wurden die allerersten Worte über ein Handy gesprochen. Der Elektroingenieur Martin Cooper sprach in einer Seitenstraße von Manhattan, ungläubig bestaunt von den Passanten, folgende Worte: „Joel, ich rufe dich von einem mobilen Telefon an. Von einem echten tragbaren Batterietelefon!“ Cooper gilt als der Erfinder des Mobiltelefons und sein erster Anruf galt seinem Konkurrenten Joel Engel in der (gegnerischen) Forschungsabteilung von Bell Laboratories. Das damalige Handy wog übrigens mehr als ein Kilogramm und hatte eine Betriebszeit von nur zwanzig Minuten.
Heute, 42 Jahre später, besitzen 90 Prozent aller Deutschen über 14 Jahren ein Handy und in Österreich wird es nicht viel anders sein. Keiner wundert sich mehr über einen Passanten, der seinem Mobiltelefon begeistert berichtet, wo er sich gerade befindet. Und wir sind es gewohnt, wegzuhören, wenn wir in der Straßenbahn Zeuge eines Telefonats werden, in dem Dinge besprochen werden, die wir gar nicht wissen wollen.
Wir betreten ein Lokal, steigen in die U-Bahn, warten auf den Bus und um uns herum sind alle in ihr Handy vertieft, das mittlerweile ein kleiner Computer geworden ist. Die einen starren auf ihr Display und lesen die Zeitung, die anderen schreiben eine Nachricht auf WhatsApp oder kontrollieren ihren Facebook-Account, eine sieht ein lustiges You Tube-Video an, eine andere hat die Kopfhörer im Ohr und hört Musik. Kaum einer redet miteinander, man schaut einander nicht einmal mehr an.
Eine Szene wie die folgende spielt sich vermutlich täglich unzählige Male ab: Abendessen in einer Raststation an der Autobahn, irgendwo in Österreich. Am Nebentisch sitzt eine Familie mit zwei Kindern, einem Mädchen und einem Buben. Alle vier sind mit ihren iPhones beschäftigt, essen nebenbei und wechseln die ganze Zeit kein einziges Wort miteinander. Irgendwann, nach 15, 20 Minuten fällt endlich doch noch ein Satz. Der Vater fragt den etwa 8-jährigen Sohn: „Musst du auf die Toilette? 1“
Wenn wir jetzt vom „Miteinander“ der alten Zeiten reden, ist es, als blickten wir in ein fremdes Zeitalter zurück. Es ist nicht nur die „Zeit, bevor das Handy kam“, es ist auch die „Zeit, bevor das Fernsehen kam“. Das Leben damals war in vielen Dingen so grundlegend anders als unser Leben heute, dass es uns unendlich weit weg erscheint – dabei liegen nur wenige Jahrzehnte dazwischen.
Das, was die Menschen damals erlebten, war schlicht und einfach „Gemeinschaft“. Damit ist nicht gemeint, dass alle fantastisch miteinander auskamen und sich fortwährend gegenseitig ihr Herz ausschütteten. Nein, die Gemeinschaft war das Ergebnis der Verhältnisse der damaligen Zeit. Viel mehr Menschen als heute lebten miteinander unter einem Dach. Man redete miteinander, man erzählte sich vieles, man fragte nach und hörte zu. Und all das nicht am Telefon, auch nicht übers Internet, sondern in echten Gesprächen mit real anwesenden Menschen.
ES WAR IM MÜHLVIERTEL in den frühen 1940er-Jahren, als eine Volksschullehrerin in ihrer Klasse eine kleine, visionäre Rede hielt. Sie sagte ungefähr Folgendes: „Ich selbst werde es nicht mehr erleben, aber ihr werdet es noch erleben! Ihr alle kennt ja ein Radio. Ein paar von euch haben sogar eines in der Stube stehn. Ich sag euch: Eines Tages werdet ihr ein Radio mit Bildern haben. Ich weiß auch nicht genau, wie das funktionieren kann, aber es wird so etwas wie ein Radio sein und daneben werdet ihr ein Bild sehen.“ Die Schüler hatten damals keine Ahnung, wovon die Frau Lehrerin sprach. Keiner konnte sich nur entfernt vorstellen, was sie meinte.
Als diese Menschen dann das erste Mal in ihrem Leben Fernsehbilder sahen, machte das ungeheuren Eindruck. Jeder von ihnen weiß noch ganz genau, wann und wo er die erste Fernsehsendung gesehen hatte. Man erinnert sich an diesen Moment als etwas Großes, Umwälzendes, Unglaubliches.
Folgende Episode ist typisch für diese Zeit: Ein Familie aus Wien besaß in einem kleinen Dorf im Burgenland ein Ferienhaus. Außerdem gehörte ihnen das einzige Fernsehgerät weit und breit. Fernsehen war neu, eine Sensation, und es übte eine ungeheure Anziehungskraft aus. Wie in anderen Orten war auch in diesem Dorf Fernsehen anfangs ein gesellschaftliches Ereignis. Man verabredete sich, um eine bestimmte Sendung gemeinsam anzuschauen. Hier im Burgenland war es die „Löwingerbühne“ mit ihren volkstümlichen Stücken, die den halben Ort im Wohnzimmer der Familie versammelte. Jeder verfügbare Sessel wurde in den kleinen Raum getragen, und dicht gedrängt verfolgte man gemeinsam die Sendung.
Dasselbe um 1960 in einem kleinen Ort bei Hermagor in Kärnten: Auch hier besaß nur eine einzige Familie ein Fernsehgerät. Diesmal war es der „Kasperl“, der einmal wöchentlich, am Mittwoch, alle Kinder des Ortes anlockte. Allerdings durfte nur schauen, wer die „Eintrittsgebühr“ bezahlte: einen Schilling pro Kind.
In der Anfangszeit war Fernsehen noch ein Gemeinschaftserlebnis. Das änderte sich aber schnell. Unversehens saß jeder bei sich zu Hause abends allein vor seinem Fernsehgerät. Innerhalb weniger Jahre veränderte sich das Leben nicht nur am Land dadurch so nachhaltig, dass man von einer „Zeit davor“ und einer „Zeit danach“ sprechen kann.
In der „Zeit davor“ saß man nach der Arbeit gesellig beieinander, unterhielt sich, sang auch manchmal, spielte Karten und erzählte sich Geschichten. Besonders der Winter mit seiner arbeitsfreien Zeit war besonders gesellig. Niemand saß allein in der dunklen Stube, häufig kamen die Nachbarn dazu und man besuchte sich gegenseitig.
In der „Zeit danach“ scheint dies alles wie ausgelöscht zu sein. Die Nachbarn nehmen auch am Land kaum mehr Anteil am Leben des anderen (zumindest im Vergleich zu früher) und besuchen sich infolgedessen nur mehr selten. In den Häusern ist es stiller geworden, auch weil viel weniger Menschen als früher darin leben. Die Gemeinschaft, die die alten Zeiten so sehr prägte, scheint unwiederbringlich vorbei zu sein.
BEIM REDEN KOMMEN DIE LEUT Z’SAMM, sagte man früher und meinte damit, dass allein durchs Reden Gemeinschaft entsteht. Die Gespräche ergaben sich wie von selbst. Nach Feierabend traf man sich irgendwo, im Sommer im Freien, im Winter in der beheizten Stube. Im kleinen Kärntner Dorf Kamaritsch war in den 1940er-Jahren der tägliche Treffpunkt für die Dorfgemeinschaft die Küche der Großmutter meines Gesprächspartners. Es war eine winzige „Rauchkuchl“ mit offenem Feuer. Die Wände waren schwarz vom Ruß, weswegen eine solche Küche auch „schwarze Kuchl“ genannt wurde. Die Großmutter hielt immer Kaffee am Herd warm, für den Fall, dass sie Besuch bekommen sollte. Und das war oft der Fall, denn sie war eine gesellige Person. Die Nachbarn drängten sich geradezu in dem kleinen Raum. Sie saßen um den Tisch und auf der schmalen Sitzbank, die entlang der Wand verlief. Die Männer trugen Hosen aus selbst gewebter, ungefärbter Leinwand, und wenn sie aufstanden, hatten sie alle am Hinterteil einen Rußabdruck. So sah man schon von Weitem, wer bei der fröhlichen Runde dabei gewesen war.
Im Sommer war die Hausbank im Freien der Ort für Gespräche. Alle, die im Haus lebten, trafen sich dort nach Feierabend, manchmal setzte sich ein zufällig Vorbeikommender dazu, und selbstverständlich waren auch hier die Nachbarn willkommen. Geredet wurde nicht über Weltbewegendes. Meistens ließ man den Tag noch einmal Revue passieren und besprach die Arbeiten des nächsten Tages. Wie wird das Wetter? Wie weit ist der Nachbar schon mit seiner Arbeit? Wer braucht Hilfe beim Heuen? Man nannte das „Abschlussdischkurieren“, und das war durchaus eine wichtige Sache.
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